Erinnerung, sprich

Star-Jurist und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach arbeitet seit jeher nicht nur an seiner Literatur, sondern auch an seinem Image. Das geschieht im neuen Band „Der stille Freund“ mit zwei äußerst avancierten Vorbildern: Marcel Proust und Vladimir Nabokov.

Seit anderthalb Jahrzehnten literarisiert der einstige Strafverteidiger Ferdinand von Schirach juristische Dilemmata. Seine Millionenauflagen bargen mithin die Hoffnung, dass die Masse durch seine Storys und Stücke juristisch sensibilisiert wird. Doch 2025, nach der rechten Schmutzkampagne gegen Frauke Brosius-Gersdorf, kann man diese Hoffnung getrost begraben. Die renommierte Rechtsprofessorin sollte ans Bundesverfassungsgericht berufen werden. Dann wurde ihre wissenschaftliche Arbeit diskreditiert. Dabei hatte Brosius-Gersdorf lediglich auf ein Paradoxon des geltenden Abtreibungsrechts aufmerksam gemacht. Dieses besteht in der ungelösten Frage nach den Grundrechten einer Schwangeren gegenüber jenen des Embryos – ein klassisches Schirach-Dilemma, wie es beispielsweise in seinem Fernsehfilm „Terror“ dargestellt wird.

Dort ging es um die Frage, ob ein Flugzeug mit 164 Menschen an Bord abgeschossen werden darf, wenn es in terroristischer Absicht Kurs nimmt auf ein Fußballstadion mit 70.000 Zuschauern. Die Lebensrechte der Geiseln im Flugzeug waren abzuwägen gegen die der Zuschauer im Stadion. Schirach mag seine Fälle zugunsten des literarischen Plots vereinfachen – doch bekommt man durch seine Geschichten eine dahinterliegende Ahnung der rechtswissenschaftlichen Komplexität. Wie ein Zitat auf die Causa Brosius-Gersdorf schreibt Ferdinand von Schirach nun in einem Essay des neuen Bandes: „In Orwells 1984 heißt es: ‚Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft machen wollen, dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der ein menschliches Gesicht zertrampelt – unaufhörlich.’ Diese Stiefel sind heute die sozialen Medien.“

Der Urteiler ist weniger wichtig

Schirachs harsche Sicht auf unsere mediale Wirklichkeit steht am Ende eines kurzen, gerade einmal viereinhalbseitigen Essays, der unter dem Titel „Wirklichkeit und Wahrheit“ nachdenkt über den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 und jene seitdem die Sozialen Medien flutenden Fake News, die bewirkten, dass mehr als 90 Prozent der Palästinenser im Gazastreifen und Westjordanland überzeugt sind, die Hamas habe in Israel keine Gräueltaten verübt. „X/Twitter, TikTok und Telegram werden mit Terrorpropaganda, Falschinformationen und Antisemitismus überschwemmt. Und das funktioniert“, konstatiert Schirach.

Eindringlich rafft er die barbarischen Taten, zitiert die New York Times, nennt noch einmal die schier unvorstellbare Zahl 1139 – so viele Menschen wurden am 7. Oktober ermordet bei diesem größten an Juden verübten Massaker seit dem Ende der Shoah. Schirachs medial informierte Zeugenschaft hebt sich dabei mitfühlend ab von der klirrenden Kälte seiner frühen Storys in den Bänden „Verbrechen“ und „Schuld“. Diese Wandlung zum gesellschaftlich engagierten Schriftsteller zeitigte bereits ein mit Alexander Kluge entstandenes Gespräch, das unter dem Titel „Die Herzlichkeit der Vernunft“ im Jahr 2017 erschienen ist. Damals sprach Schirach im Büchermarkt über den ursächlichen, schon bei den alten Germanen beobachtbaren Zusammenhang von Erzählung und Recht.

„Das Thing war ein heiliger Ort. Wenn etwas Schreckliches passierte, zum Beispiel wurde ein Dorf niedergebrannt und die Frauen vergewaltigt, trafen sich die Menschen dort, meist war das Thing auf einem Hügel. Dort gab es zwei Arten von Richtern: die Erzähler und die Urteiler. Die Urteiler waren gar nicht so wichtig, es ging um die Erzähler. Sie sprachen so lange über das furchtbare Ereignis, bis alles erfasst war. Welcher Frau wurde was angetan? Welches Haus wurde wie niedergebrannt? Wie sahen die Angreifer aus? Wie viele waren es? Das genaue Erzählen beruhigte die Gemeinschaft. Vielleicht interessieren uns Strafprozesse genau deshalb: Dort werden die Taten ‚nacherzählt’. Noch immer sind sie furchtbar, aber sie machen uns weniger Angst.“

Wegen Jeffrey Epstein?

Das Erzählen vertreibt die Angst und bannt den Tod. Über solche und andere Kräfte der Narration denkt Schirach in den vierzehn Texten nach. Essays wie jener über den Zusammenhang von Terror, Fake-News und Soziale Medien stehen neben autobiographischen Erinnerungen aus Schirachs Studentenzeit in Bonn und eindringlichen Vignetten über Schriftsteller wie Vladimir Nabokov, Egon Friedell und Marcel Proust, über vergessene Opfer des Nationalsozialismus und einen berühmten Straftäter der 1920er Jahre: den österreichischen Architekten Adolf Loos, der wegen „Verbrechens der Schändung“ angeklagt wurde, nachdem er acht- bis zehnjährige Mädchen in seiner Wiener Wohnung sexuell missbraucht hatte. Die lang verschollenen Akten des Prozesses, der quasi mit einem Freispruch endete, wurden erst 2015 veröffentlicht. Sie berühren Fragen, die unsere Gesellschaft weiterhin, man kann fast sagen: jetzt erst recht, beschäftigen.

„Wegen Harvey Weinstein? Wegen Jeffrey Epstein? Kevin Spacey? Louis C. K.? Wegen all der anderen? Vielleicht ein wenig. Aber was machen wir mit den Kunstwerken, mit der Malerei, den Kompositionen, den Filmen, der Philosophie dieser Leute? Was wir abstoßend finden – wirkt es in das Kunstwerk hinein? In die Philosophie? Lässt sich das überhaupt voneinander trennen? Denken Sie nur an den 80-jährigen Maler Balthus, der Polaroids von einer fast immer nackten Achtjährigen gemacht hat. Seine Fotos wurden viele Jahre lang ausgestellt. Soll das wirklich gefeiert werden?“

Besser nicht verzweifeln

Ferdinand von Schirachs Band ist eine Sammlung moralischer Geschichten, die sich in ihrer Melancholie von seinen ersten Storys unterscheiden. Der Schriftsteller denkt nicht nur in juristischer, sondern auch in religiös-philosophischer Weise über den Tod nach. Man ist verwundert ob dieser Ausstellung von Intellektualität. Denn es geht weniger um die pointierten strafrechtlichen Bewertungen kurioser Mordfälle, sondern stattdessen um die Vergänglichkeit an sich, um das ganz allgemeine Da-Sein zum Tode – und wie wir dieser Vergänglichkeit begegnen sollten.

„Eine Woche bevor sie starb, besuchte ich eine 83-jährige Freundin in Salzburg. Sie wog nur noch 45 Kilo, saß gut gelaunt auf ihrer Terrasse über der Stadt, rauchte und trank Kaffee. ‚Der Krebs ist schon grauslich, ja’, sagte sie. ‚Aber den Tod darf man nicht so ernst nehmen. Wenn man verzweifelt ist, stirbt man. Wenn man nicht verzweifelt ist, stirbt man auch. Besser also, man ist nicht verzweifelt.’“

Vor rund 40 Jahren absolvierte Schirach sein Referendariat in jener Anwaltskanzlei, die Jurek Becker bei seiner TV-Serie „Liebling Kreuzberg“ beriet. Über zwanzig Jahre später veröffentlichte er sein Debüt „Verbrechen“. Schriftsteller war er seit seinen Begegnungen mit Jurek Becker, vermutlich sogar, das deutet der neue Band an, seit seiner Jugendzeit. Daher kann man ohne Ehrabschneidung konstatieren, dass seine Autorenkarriere in ihre Spätphase eintritt – und sich deshalb nicht nur um juristische oder moralische Dilemmata kümmert, sondern auch um künstlerisch-persönliche Werkpolitik. Man folgt diesem Weg immer noch gern, und muss doch konstatieren: Schirach wird stiller. Seine Literatur ist selbstbezogener, melancholischer gestimmt, mehr und mehr in sich gekehrt. Der Vorgänger „Regen“ hatte es angedeutet. Ebenso tritt Schirach kaum noch im hiesigen Medienbetrieb auf. Man muss diesen Rückzug bedauern, denn nicht nur die Demontage der hoch angesehenen Rechtsprofessorin Brosius-Gersdorf zeigt, dass wir in diesen Zeiten einen öffentlichen Schirach mehr als den nun zurückgezogenen: bitter nötig haben.

Ferdinand von Schirach: „Der stille Freund“, Luchterhand, München, 176 Seiten, 22 Euro

 

 

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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