Die schönsten Bilderbücher im Mai

Erstmal Mittag machen: auf der Baustelle von Salla Savolainen oder lieber mit den drei langsamsten Schnecken der Welt? Die Bilderbücher dieses Monats zählen mit, führen ins Grüne, wirbeln Betonstaub auf, kämpfen mit Krabben und bestaunen Papas Tattoos.

Nach der Leipziger Buchmesse Ende März dieses Jahres hat Nils Schniederjann im Deutschlandfunk vielbeachtet kommentiert, wie die Lebenswelt junger Männer in der deutschsprachigen Verlagslandschaft kaum noch dargestellt wird – und welche auch gesellschaftlichen Folgen diese Ignoranz möglicherweise hat (hier nachlesen). Ende April wurde passend die Gründung von Conduit Books angekündigt (hier), ein Verlag, der Bücher von Männern veröffentlichen will – und man kann spekulieren, in welcher Weise sich diese Unternehmung jener besorgniserregenden Debatten über „Male Loneliness“ entgegenstellt, die derzeit von viel Häme begleitetet wird, und zwar aus dem überwiegend aktivistisch-feministischen Winkel (kurz zusammengefasst: die überwiegend jungen Burschen sind selbst schuld, wenn sich niemand mit ihnen treffen möchte). Immerhin die Allerkleinsten werden bereits jetzt versorgt. Für Jungs hat der Münchner Hanser-Verlag seit vergangenem Jahr die Sachbilderbücher der Finnin Salla Savolainen im Programm (oha: auch eine Frau kann Bücher für Männer schreiben, der Spur sollte man mal folgen).

Diese Bilderbuchreihe zeigt die überwiegend männliche Baustellen-Arbeitswelt, nach „Asphalt!“ nun „Beton!“ – ein Blick in die komplizierte Welt des Brückenbaus (kann man jetzt auch metaphorisch lesen), in die Herstellung dieses Kunststeins, vom Abbau der Grundstoffe bis zur Verarbeitung: mit Schubkarren, Zementsilos, Betonpumpenwagen, Fahrmischern und der Vorstellung zahlreicher Berufe, die überwiegend von Männern ausgeübt werden. Wir lernen, wie in der „Sendung mit der Maus“, Mischmeister kennen, Betonbauer, den Baustellenchef Emil, Brummifahrer und Poliere; aber auch eine Betonpumpenmaschinistin, die Laborantin Karla und Elsa mit der Nagelpistole. Ein staubiger Spaß, bei dem das Röhren, Hämmern, Schütten und Mischen geradezu gehört werden kann. Auf einen nun dringend notwendigen Baustellenroman warten wir. Im kommenden Jahr sollen die ersten Titel bei Conduit Books erscheinen. Salla Savolainen: “Beton! Wir bauen eine Brücke“, aus dem Finnischen von Elina Kritzokat, Hanser, 40 Seiten, 16 Euro, ab 4 Jahre

Illustratorin Katja Spitzer, bekanntgeworden durch die beiden „Hey, hey, hey, Taxi!“-Bücher, gestaltet nun mit klarer Kontur und in satten Farben „Das längste Picknick der Welt“. „Hinterm Gartenhaus treffen sich die drei Schnecken Anna, Otto und Izzy. Die Sonne scheint, und es ist ein herrlicher Tag.“ Sie verabreden sich zum Picknick auf der großen Lichtung. Allerdings erwarten sie nicht (was eigentlich ihre Natur sein müsste), dass sie dort ausreichend Essbares vorfinden werden. Stattdessen packen sie Picknick-Proviant ein. Bei Drei geht’s los, schon kommt der erste Gag, die Schnecken sind, wie sollte es auch anders sein, ziemlich langsam: „Ein halbes Jahr später…“ Die Schnecken sind immer noch auf ihrem Weg zur Picknickstelle. Ihr Magen knurrt. Es kommt, wie es kommen muss: sie verzehren ihren Proviant, bevor sie die große Lichtung erreicht haben – und ein weiteres halbes Jahr später (hier kommen die Zeiten durcheinander), beginnt bereits der knackige Winter. Erst nach 18 Monaten sind sie an Ort und Stelle und müssen, nachdem alles aufgebaut ist, feststellen, dass sie ihre Kleeblatt-Schorle vergessen haben. „Ohne geht gar nicht“. Doch wer soll zurückschleimen, um das Getränk zu holen? Bei der Wahl hilft das altbekannte Spiel „Schneck, Schnack, Schnuck.“ Allerdings ist fortan fraglich, ob die beiden zurückgelassenen Tiere standhaft bleiben werden, bis ihr Gefährte endlich zurückgekehrt. Ein Buch über die Philosophie der Zeit und das Warten, für Kinder ab 4 Jahre. Jörg Bernardy (Text), Katja Spitzer (Illustration): „Das längste Picknick der Welt“, Peter Hammer, 32 Seiten, 16 Euro

Anfang dieses Monats war ich mit dem Goethe Institut in Krakau – und stand andächtig vorm Adam-Mickiewicz-Denkmal auf dem Hauptmarkt der dortigen Altstadt und diskutierte später mit freundlichen Menschen der Litrix-Jury über Neuerscheinungen dieses Bücherfrühlings. Wir besuchten gemeinsam eine Comic-Ausstellung. Zwischendurch aß ich Hummus mit Granatapfelkernen im jüdischen Stadtviertel Kazimierz, wir schauten in zwei Buchhandlungen, und wie so oft, wenn ich eine fremde Stadt besuche, hielt ich Ausschau nach bislang nicht übersetzten Bilderbüchern, wobei dieses hier ohne Text auskommt, es braucht lediglich eine Lizenz. Mit seinen Pop-Illustrationen fiel dieses Papp-Exemplar sofort auf: „Mam oko na Liczby“ – „Ich habe die Zahlen im Auge“, anders als das Buggybuch von Pixi, das ich vor wenigen Wochen vorgestellt habe, sehr kontrastarm, mit beinahe monochromen Doppelseiten, bei „1“ beginnend, bei der „10“ endend. Es zeigt phantastische Fabelszenen, bei denen alle Gegenstände und Tierarten mehrfach abgebildet sind, keinesfalls automatisch fünf Kühe zeigend, wenn in der linken oberen Ecke eine „5“ gedruckt ist. Man muss suchen, verzählt sich möglicherweise. Es ist eine ästhetisch ansprechende Freude, diese Zahlenreise vom Kanaren-Strand über den Dschungel bis hinein in den chaotischen Supermarkt. Mizielińska Aleksandra, Mizieliński Daniel: „Mam oko na Liczby“, Dwie Siostry, 20 Seiten, unterschiedliche Preise (da es in Polen keine Buchpreisbindung gibt), ab 3 Jahre

Kinder können den Eindruck gewinnen, ihre Väter seien furchteinflößende Giganten: „Ich war ja schon niedergedrückt durch Deine bloße Körperlichkeit. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie wir uns öfters zusammen in einer Kabine auszogen. Ich mager, schwach, schmal, Du stark, groß, breit“, erinnert sich Franz Kafka in seinem berühmt gewordenen „Brief an den Vater“. Auch Emilia, die bei ihrem Papa lebt, beschreibt ihn als beeindruckende Erscheinung: „Er ist riesengroß und hat viele Tattoos. Eine Pantherin, einen Matrosen, eine Meerjungfrau, einen Kobold, einen Totenkopf, einen Stern. Und noch viele, viele mehr.“ In einer Perspektive erscheint der hautkünstlerisch geschmückte Mann riesengroß gegenüber dem kleinen Mädchen. Die Bilder zeigen etwas Fremdes, und doch kann Emilia, wenn ihr Papa eingeschlafen ist, eine Phantasielandschaft erkennen. Sie hat keine Angst, sondern wandert, an ihn geschmiegt, die einzelnen Motive ab: „Der Matrose erzählt ihr Abenteuer von hoher See und fernen Häfen. Die Meerjungfrau bringt ihr schöne Lieder bei und zeigt ihr, wie man Zöpfe flicht. Mit dem Totenkopf spricht Emilia über Zombies und Gespenster.“ Emilia zeigt keine Furcht, sie „fühlt sich stark, fast ein bisschen wie eine Pantherin. Besonders gern vergräbt sie ihre Nase in dem schwarzen Fell.“ Mit einer einzigen Idee rückt dieses kreative Bilderbuch nicht nur die kleine Emilia in den Vordergrund, sondern auch einen beeindruckenden Mann, der ausstrahlt, was Kinder selbstverständlich begehren: Sicherheit. Nicolás Schuff (Text), Ana Sender (Illustration): „Papas Tattoos“, aus dem Spanischen von Silke Kleemann, von Hacht, 32 Seiten, 18 Euro, ab 4 Jahre

Alle Helikoptereltern rufen: „Verletzungsgefahr!“ Keine zahmen, sondern absichtlich „wilden“ Kinderspiele stellen die Kölner Michael Heinze und Katrin Stangl vor, darunter die martialisch klingende „Menschenkegel“ für die Turnhalle: „Verteilt die Matten in einem großen Kreis und stellt euch drauf. Nun versucht ein Kind, eines der anderen umzukegeln.“ Lustig ist für alle Eltern dieser gut gemeinte Hinweis: „Der Ball darf nur gerollt und nicht geworfen werden.“ In robuster Mission geht’s zum Krabbenkampf, Wackeltauziehen, Kettenfangen und Ballbatlle – nur wer absolut verdorben ist, erkennt hier bereits Wehrertüchtigung (aber man ahnt die etwaigen Vorwürfe). „Wichtig! Wichtig! Wenn jemand STOPP! ruft, wird gestoppt. Die Spiele dürfen niemandem wehtun. Zieht Schmuck und Uhren aus und bindet lange Haare zusammen.“ Eine willkommene Einladung zur Koordination, zum leichten Sport nicht nur für Kids mit Haltungsschäden. Ein Buch, das im beginnenden Sommer auf der Wiese und während der anstehenden Kindergeburtstage den Gegenwert eines Goldbarrens hat. Michael Heinze (Text), Katrin Stangl (Illustration). „Muskelsalat“, Moritz Verlag, 96 Seiten, 20 Euro, ab 4 Jahre

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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