Inmitten der Trümmer eines hoffnungslos erodierten Europas inszeniert der hochbegabte deutsche Schriftsteller Marius Goldhorn eine schillernde Gesellschaftsutopie. Sein Roman „Die Prozesse“ erzählt von Liebe und von neuen Möglichkeiten der Begegnung – aber auch von Terrorismus, brennenden Barrikaden, ausgebeuteten Arbeitern und den trügerischen Hoffnungen, die auf „Second Life“-KI-generierte Digitalwelten gerichtet werden.
„Seitdem die Welt untergeht, sieht alles besser aus.“ Derart entzückt zeigte sich Marius Goldhorns Erzähler im Schauerroman „Park“. Die Welt geht unter, aber auch darin kann Schönheit liegen: „Meine Stadt brennt. Reicht mir ein Tränendöschen!“ Vor fünf Jahren schrieb sich Goldhorns erstaunliches „Park“-Debüt ins Herz der katastrophenverehrenden Gen-Z, ebenso zufällig wie passend im ersten Corona-Pandemiesommer platziert.
„gehen wir zusammen in den lockdown? / ich packe meine sachen“, dichtete Goldhorn im März 2020, blitzschnell die Ausnahmesituation erfassend im rasch, quasi parallel zu „Park“ publizierten Lyrikband „Yin“. Auf diese Weise empfahl sich der 1991 im rheinland-pfälzischen Lahnstein geborene Autor als Sänger in jenem literarischen Generationenchor, der inzwischen Mitglieder wie Juan S. Guse, Ariane Koch, Ozan Zakariya Keskinkılıç oder auch Joshua Groß aufgenommen hat – allesamt Autorinnen und Autoren, die literarisch über ihr Unbehagen an den gegenwärtigen Verhältnissen nachdenken und ganz konkrete Gegenutopien ausgestalten, die zugleich nach Reservaten des Schönen suchen – und nach neuen Weisen des Zusammenlebens. „Die Prozesse“ heißt der zweite Roman des mittlerweile 33-jährigen Marius Goldhorn, der nun eine pop-melancholische Liebesgeschichte mit KI-Spekulationen, Klima-Apokalypse und Gesellschaftsutopie verbindet.
Gated Communities vs. N8
„Wir konnten nicht schlafen. Ezra und ich verließen unser Hotelzimmer im Morgengrauen. Wir trafen niemanden.“ So gleichzeitig heimelig wie unheimlich eröffnet der postapokalyptische “Prozesse”-Roman im Spätsommer des Jahres 2030, den Ich-Erzähler und seinen Partner vorstellend, die gemeinsam in Molenbeek wohnen, jenem Brüsseler Stadtteil, der in den 2010er Jahren als Wohnort islamistischer Terroristen bekanntgeworden ist. Der namenlose 29-jährige Erzähler und sein „über sieben Jahre“ älterer Freund hausen in einer Einraumwohnung mit der Hochhausnummer N8, was man poetisch zusammengezogen ebenso als „Nacht“ lesen kann. In N8 sind die jungen Männer in erhöhter Position, ein wenig entrückt von dieser Hauptstadt eines erodierten, den Wohlstand verabschiedenden Kontinents.
„Nachts saß ich in N8, die Füße auf der Fensterbank, und hörte mit Kopfhörern das Besetzer-Radio. Ich stand auf, stellte mich ans Bett und sah Ezra beim Schlafen zu.“ In den südlichen, mehr und mehr verdorrenden Ländern ist das tropische Dengue-Fieber ausgebrochen. In Metropolen brennen die Barrikaden. Es gibt Elend, extremistische Anschläge und staatliche Repressionen. Die Oberschicht hat sich wie in Boccaccios Pest-Reigen „Decamerone“ auf abseits gelegene Latifundien oder in „Gated Communities“ zurückgezogen, weit entfernt vom Existenzkampf des massiv angewachsenen Neo-Prekariats.
Erst Psychiatrie, dann Egregore
Aus dieser verheerten Realität ist das schwule Liebespaar ins Digitale migriert: Sie blicken tagsüber in Computer- und Smartphone-Displays, spiegeln sich im Glas, so wie Narcissus sich in Ovids „Metamorphosen“ auf der Wasseroberfläche spiegelte, die Welt um sich herum vergessend. Der Erzähler dieses irrlichternden Romans arbeitet als Artificial-Intelligence-Designer, entwirft in der Sommerzeit dieser Geschichte einen mythischen Baum für das mittelalterlich angehauchte Parallelweltspiel „Egregore“. Sein älterer Freund Ezra hingegen befüllt einen Zeitgeistblog, hat sich den vielsagen Online-Namen Deborn (also: Gegen-Geburt) gegeben und sich nach einem Psychiatrieaufenthalt den „Angelus Novus“ als Profilbild ausgesucht, abgebildet in jenem von Paul Klee gestalteten Aquarell, über das Walter Benjamin einst geschrieben hat:
“Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“
Die Schwelle des Posthumanismus
Ezra schreibt – Walter Benjamins dystopischer Geschichtsauffassung folgend – in seinem Blog über Bäume in zerbombten Landstrichen, über das Buch Jesaja, „über die OPV-HIV-Theorie, über die Herrschaft der Gene, über das Klonen“, Depressionen, den Krieg „und die große Kriegsdichtung von heute“. Für ihn sind das alles Zeichen des Aussterbens, des menschlichen Exodus’. In Ezras Weltanschauung wurde die Schwelle zum Post-Humanismus überschritten von jenen transzendental Obdachlosen, die in der Real-Welt längst nicht mehr beheimatet sind.
„Im Aussterben lag für ihn keine Dunkelheit, kein Versterben des Lichts, sondern Helligkeit. Wer von dieser Aussterbe-Erkenntnis berührt wurde, gab alle Ambitionen auf. Der Mensch wurde zu einer Gestalt aus Worten, Sprechen, reiner Sprache. Für Deborn war der belanglose Chat das ideale Sprechen. Jedes Sprechen über Hoffnungen, Revolutionen, Projektionen, Zukunftspläne fand er schrecklich. Er wollte über das Jetzt sprechen, den Moment, in dem nichts geschah, müde flüstern. Unter dem Horizont des Aussterbens lag der Frieden. Das Aussterben war reine, bedingungslose Liebe. Wir fluteten das Internet mit diesem Content.“
Noch ein Angelus Novus
Da wird also sehr viel aufgerufen in Goldhorns diagnostischem Roman, dessen Bedeutungsschwere von überraschend robusten Sprachpfeilern getragen wird, die hineingestellt sind: in pure Endzeit-Schwermut. Dieser bemerkenswerte Text eröffnet mit einem Zitat des anarchischen französischen Schriftstellers und Widerstandskämpfers Robert Desnos: „Ich bin der Tote, der durch jene Zeiten schritt.“
Auch ein Angelus Novus quasi. Im Endzeitsetting vollkommener Bindungslosigkeit versuchen der Erzähler und sein Freund Ezra wenigstens einander zu stützen. Die Liebe als Rettung, als eine von wenigen Ausflüchten? Dass aber auch diese Beziehung belastet ist, schimmert hier und da durch. „Ich erzählte ihm immer alles. Jetzt sah ich ein, dass es unpassend war, und entschuldigte mich. Ich wusch ihm eine Birne im Bad, dann wollte er, dass ich die Birne noch einmal mit Mineralwasser wusch. Ich entschuldigte mich, ich entschuldige mich immer für alles.“
Reflexionen in Smartphone-Displays
Marius Goldhorns “Die Prozesse” erzählt über die Dauer eines knappen Jahres, wie dieses schwule Liebespaar von Brüssel aus über Ostende nach Ligurien reist – auf der Suche nach einem heilenden Ort, einer Art Heidegger’schem Adyton. Denn Ezra wird schwerkrank, zum siechenden Gefährten, belastet durch eine genetisch bedingte, irreparable Funktionsstörung seiner Haut, die spröde wird, sich durch kleinste Reizungen ablöst. Diese sogenannte „Schmetterlingskrankheit“ klingt anfangs wie eine poetische Erdichtung des Autors, ist jedoch real: und tödlich.
„Am 15. September bildete sich auf Ezras Gesicht ein schmetterlingsförmiger Ausschlag, so wie er gesagt hatte. Das Display schimmerte als Reflexion in der Salbe. Sein Gesichtsausdruck normalisierte sich. Das Verschlafene verschwand, ein schwacher Ausdruck der Lebendigkeit kehrte zurück, etwas Verstohlenes in seinen Augen.“ Blendet der Erzähler die Agonie seines Liebhabers zunächst aus, ist der nahende Tod irgendwann unübersehbar. Da hilft nicht, dass der junge Mann generell nicht über Krankheiten sprechen möchte, dass er versucht, bestimmte Informationen keinesfalls in sein „System“ zu lassen.
Endlich ein Zufluchtsort
Er wird notwendigerweise zum Palliativpfleger seines Liebhabers auf dieser Flucht nach Ligurien, wo das Paar endlich von einer Bekannten aufgenommen wird, die ein Refugium bewohnt – auch dies Topos vieler postapokalyptischer Erzählungen, dieser unwahrscheinliche, von der Katastrophe vorerst verschonte safe space. “Die Auffahrt war von Lavendelbüschen gesäumt. Wir erreichten einen schiefergepflasterten Hof, in dem ein von der Sonne verzogener blauer Wassertank stand. Eine Treppe führte zu zwei höher gelegenen hellen und schmalen Steinhäusern. Sie standen da wie zerbrochene Säulen, schienen das Auge eher abzuweisen als anzuziehen. Das ist ein Zufluchtsort, dachte ich, ein Versteck. Ein großer Kaktus wuchs an einer Hauswand bis zum Dach.”
Wie gesagt: Marius Goldhorn ist einer jener jungen deutschsprachigen Schriftsteller, die über neue Formen des Zusammenlebens nachdenken, über zukünftige Schutzorte, über die Position des Menschen angesichts Künstlicher Intelligenz und jener „war machines“, über die bereits Gilles Delueze und Félix Guattari in der epochemachenden „Tausend Plateaus“-Studie von 1980 nachgedacht haben. Der Roman-Titel „Die Prozesse“ ist in dieser Science-Fiction-Spekulation doppelt zu verstehen, denn es geht einerseits um jene Veränderungsprozesse, die unsere gesellschaftlichen und psychischen Systeme überlasten – andererseits um tatsächliche Gerichts-Prozesse, die im Verlauf dieser Geschichte eine derart wichtige Rolle einnehmen, dass ihre genaue Ausgestaltung an dieser Stelle nicht verraten werden sollte. Doch vielleicht so viel: Sie haben weniger zu tun mit Kafkas Fragment „Der Process“, sondern vielmehr mit Milo Raus „Die Prozesse“-Inszenierungen, wie zuletzt jenen bei den Wiener Festwochen.
Eingebettet in die uralte Form der Heldenreise spekuliert Goldhorns Buch über die nähere Zukunft von uns allen. Wo Leif Randt inzwischen aufhört, geht dieser Schriftsteller weiter; Marius Goldhorn, der einen poetischen Stil mit ganz prosaischer Zukunftsforschung verbindet, auf diese Weise selbst mit weit aufgerissenen Augen die Monstrosität der menschlichen Geschichte an sich betrachtet als „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“
Marius Goldhorn: „Die Prozesse“, KiWi, Köln, 288 Seiten, 23 Euro