Der Psychotherapeut Leon Engler forscht in seinem Debütroman „Botanik des Wahnsinns“ über die Weitervererbung von Traumafolgen. Stecken die Schrecknisse unserer Vorfahren in den Genen? Eine Spurensuche mit Carl von Linné.
Traumafolgen sind höchst wahrscheinlich vererbbar. Bei einem Laborversuch lernten Mäuse, den Geruch von Kirschblüten mit Schmerz zu verknüpfen. Obwohl ihre Nachkommen von ganz anderen Mäusen aufgezogen wurden, reagierten sie mit Angst auf den Geruch der lieblich riechenden Blüten. Werden Traumata also – wie lange vermutet – in den Genen gespeichert? Der Psychologe Leon Engler hat Mitte August einen umfassend recherchierten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die bemitleidenswerten Mäuse veröffentlicht – kurz nach Erscheinen seines autofiktionalen Debütromans „Botanik des Wahnsinns“, dessen Inhalt der Autor selbst eben so einordnet: „Sagen wir mal: 38 % autobiografisch, 58 % ausgedacht, und bei 4 % weiß ich selbst nicht mehr so genau“
Das sagt Leon Engler, dessen Buch einen jungen Mann vorstellt, der aufgrund familiärer Prädispositionen befürchtet, wahnsinnig zu werden. Seine Mutter war Alkoholikerin, der Vater depressiv in einer Weise, „als ob ihm jemand eine Pferdedosis Betäubungsmittel verabreicht hätte“, selbst die Urgroßmutter litt unter einer bipolaren Störung. „Schizophrenie? Sucht? Depression? Bipolare Störung? Mein Stammbaum ist befallen von so ziemlich jeder Plage, die in den Bibeln der Psychiatrie zu finden ist. In wessen Fußstapfen soll ich treten? Welche verirrte Linie weiterführen? Die Depression meines Vaters? Die Schizophrenie meines Großvaters? Die Todessehnsucht meiner Großmutter? Die Abhängigkeit meiner Mutter?“
Eine Flucht in die Wissenschaft
Der Ich-Erzähler folgert, dass die Nachfahren von Meisen automatisch ebenfalls Meisen sind. Aus Kürbissen entstehen Kürbisse. Doch wie entwickeln sich Kinder psychisch erkrankter Elternteile? Aus Menschen werden Menschen, das ist klar – aber wie sehr sind sie beeinflusst von den Erfahrungen ihrer Eltern? Können diese Kinder ihrem unheilvollen Schicksal ebenso wenig entkommen wie einst Ödipus dem Fluch des Orakels? Der Erzähler in Leon Englers „Botanik des Wahnsinns“, nimmt sich selbst immer mal wieder aus einer gewissen professionellen Distanz wahr. Dennoch flieht er, und hat dieses Fliehen mit Ödipus gemeinsam. Allerdings flieht der Erzähler in zwei entgegengesetzte Richtungen. Einerseits entwirft er ein Leben, das im Gegensatz zu seinen Vorfahren steht – und er flieht in die Wissenschaft.
„Bevor Symptome entstehen, versucht der Patient oft eine Weile, seine Probleme mit allen möglichen Mitteln zu bewältigen. Doch diese Strategien helfen irgendwann nicht mehr und verschlimmern die Situation sogar. Der Versuch, Mängel auszugleichen oder bedrohliche Gefühle zu verdrängen, schlägt fehl. Die erhöhte Aktivität kippt um in einen Rückzug. Der Selbstschutz bricht zusammen. Symptome treten auf. Endlich lande ich in der Psychiatrie. Es ist unspektakulär. Keine Polizei, kein Krankenwagen, keine abgeschnittenen Krawatten. Ich nehme einfach den Bus.“
Der Arzt als Patient
Der junge Mann wird klinischer Psychologe, also kein Patient – was ein wenig so wirkt, als ob jemand den Beruf des Chirurgen deshalb ergreift, um jeden Beinbruch selbst versorgen zu können. Als Arzt kann er Symptome einordnen, rechtzeitig ein Abrutschen in den Wahnsinn erkennen. Er hat für Symptome einen Begriff, er kann sie bezeichnen. Dieses Bezeichnen ist Wesen aller Literatur – es ist auch eine Möglichkeit, um Gefahren abzuwehren. Spätestens seit dem „Rumpelstilzchen“-Märchen der Brüder Grimm ist bekannt, dass ein bezeichneter Schrecken leichter besiegt werden kann.
„Auf dem Aufnahmebogen ist nicht nur nach der Anamnese gefragt, sondern auch nach der Diagnose. Auch ich soll von nun an Diagnosen vergeben: Schizophrenie. Schwere depressive Episode. Generalisierte Angststörung. Essstörung. Persönlichkeitsstörung. Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol, Opioide, Cannabis. Kürbis. Walnuss. Zitrone. Mein erster Patient: ich selbst.“
Unregelmäßige Begierden
Im 17. Jahrhundert beobachtete der englische Arzt Thomas Sydenham, dass hypochondrische Männer zitronenfarbenen Urin produzieren. Derlei Wissen birgt Englers Debüt, das leichtgängig Psychologie-Geschichte mit Elementen des Familienromans verbindet. Der Botaniker Carl von Linné entwarf, auch dies wird erzählt, einige Jahrzehnte nach Sydenham sowohl das System zur Klassifizierung von Pflanzen, Tieren und Mineralien, als auch eine Klassifikation von Geisteskrankheiten, die er in drei Kategorien einteilte, in 1. Störungen der Fehlbeurteilung oder Entfremdung, in 2. Störungen, bei denen die Vorstellungskraft prinzipiell beeinträchtigt ist und in 3. unregelmäßige Begierden. So entstand jene „Botanik des Wahnsinns“, auf die Leon Englers Romantitel anspielt.
„Meine Familie war ohne Erzählung. Jetzt, da ich etwas aufschreibe, rückt es ins Licht. Es war ein weiter Weg hinaus aus der Sprachlosigkeit. Es ist eine Version dieser Geschichte, man könnte tausend verschiedene davon schreiben. So war es vielleicht, eventuell. Eine Ewigkeit habe ich gebraucht, um uns zu zerlegen.“
Mit diesem Roman hat Leon Engler die Bruchstücke seiner Freud’schen Seelenzergliederung nachvollziehbar zusammengefügt. Obwohl seine Geschichte medizinisch hochinformiert ist, wirkt sein Buch unakademisch, ist lediglich mit einem kleinen Anhang versehen. Vom Verlag wird Englers Debüt beworben als die Geschichte „von einem, der auszog, um nicht verrückt zu werden“. Dieses Debüt beweist, dass Leon Engler nicht nur sein Seelenheil bewahrt hat. Von seinem Auszug ist er zugleich als ein bemerkenswerter Schriftsteller heimgekehrt, der nun völlig zu Recht nominiert ist für den Aspekte-Literaturpreis des Jahres 2025.
Leon Engler: „Botanik des Wahnsinns“, Dumont, Köln, 208 Seiten, 23 Euro