Der verborgene Sisyphos

Das 100. Todesjahr Franz Kafkas wird von geradezu olympischen Verlagsspielen begleitet – eine staunenswerte Kuriosität ist Thomas Lehr gelungen mit „Kafkas Schere“. In zehn Fingerübungen kreuchen monströse Maulwürfe, ein höchst unglücklicher Thanatos und sogenannte BURNhardiner durchs Kafka-Palimpsest.

Dass wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen, schlussfolgerte Albert Camus 1942. 2024 hingegen – 82 Jahre später – wird Sisyphos’ Peiniger, der Todesgott Thanatos, als unglückliche Existenz vorgestellt. In einer von insgesamt zehn sogenannten Kafka-„Etüden“ des Schriftstellers Thomas Lehr bereut Thanatos nichts mehr als die Strafe, die er seinem nervigen Widersacher auferlegt, aber noch nicht vollzogen hat. Sisyphos soll bekanntlich einen schweren Stein den Berg hinaufwälzen bevor eben dieser Stein, kaum am Gipfel angelangt, gen Talsohle zurückrollen würde. Die Plackerei begänne von vorn – ohne Aussicht auf Erlösung. Doch bei Thomas Lehr hadert Thanatos sowohl mit seinem, als auch mit dem Schicksal des Verdammten.

„Kaum hatte er nämlich den Fluch und das Urteil ausgesprochen, beschlichen ihn Zweifel, bleich und lähmend wie die Fratze der Medusa. Die schlimmste aller Strafen, der größtmögliche Schmerz, die letzte Niederlage, die er dem Sisyphos hatte zufügen wollen, konnte nicht in der Pflicht enthalten sein, den Stein bergauf zu schaffen. Denn womit hätte er dem Verurteilten noch drohen können, weigerte sich dieser, die Schulter gegen den Felsbrocken zu stemmen.“

Stummer Applaus der Toten

Im Hades ist Sisyphos längst. Der bereits vollzogene Tod hat seinen Schrecken verloren. Darüber hinaus schlussfolgert Thanatos, dass sein Delinquent durchs immerwährende Training erstarken würde. Der Stein müsste also stetig vergrößert werden, damit es nicht zu einfach würde, die Strafe auszuführen. Diese Anreicherung, dieses fortwährende Austarieren würde Thanatos für immer an Sisyphos ketten. Zudem bliebe das Problem der angemessenen Berghöhe: zu gering darf sie keinesfalls sein, doch je länger der Anstieg wäre, umso erholsamer gestaltete sich der Spaziergang hinab, „gefeiert vom stummen Applaus der Toten, die sich in Reihen entlang des Wegs staffelten“. Der Strafende sähe sich unweigerlich verhöhnt. „Deshalb hat es zwar in der Sage, aber niemals in der Unterwelt einen Sisyphos gegeben, der die Toten zu furchtbaren Aufständen angestiftet hätte.“

Diese literarische Fingerübung ist erschienen im Erzählungsband mit dem schneidenden Titel „Kafkas Schere“. Mit jeder Geschichte werden neue Spiegel aufgestellt, in denen das Werk dieses bedeutsamen Prager Schriftstellers mal näher, mal ferner, aus je verschiedenen Winkeln reflektiert. Dies geschieht nicht im Sinne einer simplen Intertextualität, auch wenn Camus seinem Sisyphos-Aufsatz ein Kafka-Kapitel nachträglich angehängt hat, die Thanatos-Geschichte daher direkt auf die französische Kafka-Rezeption weist. Tatsächlich sind in dieser Gegenrede Thomas Lehrs die Überlegungen von Albert Camus als fernes Echo hörbar.

Ein anderer Abraham

Kafkaesk wird diese Etüde jedoch erst durch eine spezifische Form der Anverwandlung. Es gehört schließlich zum typischen Kafka-Ton, die Tradition gegen den Strich zu bürsten. So hat der Prager Schriftsteller etwa eine andere Geschichte entworfen, einen Myhos umgeschrieben – und zwar in einem Brief aus dem Juni 1921 an seinen Freund Robert Klopstock. Dort improvisiert er eine absurde Überschreibung der biblischen Geschichte um Abraham, dem von Gott befohlen wurde, seinen Sohn Isaak zu opfern.

„Ich könnte mir einen andern Abraham denken. Einer der durchaus opfern will und überhaupt die richtige Witterung für die Sache hat aber nicht glauben kann, daß er gemeint ist, der widerliche alte Mann und sein Kind, der schmutzige Junge. Ihm fehlt nicht der wahre Glaube, diesen Glauben hat er, er würde in der richtigen Verfassung opfern, wenn er nur glauben könnte, dass er gemeint ist. Er fürchtet, er werde zwar als Abraham mit dem Sohne ausreiten, aber auf dem Weg sich in Don Quixote verwandeln.“ – Aus dem entschlossenen wird bei Kafka ein zaudernder Abraham und bei Thomas Lehr wiederum wird nicht Sisyphos, sondern Thanatos von der eigens ersonnenen Strafe getroffen. So sind diese gerade bei Wallstein versammelten Texte Übersetzungen eines über einhundert Jahre alten Werks in die Gegenwart – vielleicht eine Andeutung sogar, wie Kafka heute schreiben würde.

Monströse Maulwürfe

In einer anderen Geschichte spielt das Motiv des Turmbaus zu Babel eine Rolle, ganz wie in Kafkas Erzählung „Beim Bau der chinesischen Mauer“. Er entwickelt sich allerdings vollkommen anders. Bei Kafka scheitert der Bau aufgrund schwacher Fundamente. In Lehrs Erzählung sind diese Fundamente durch monströse Maulwürfe geschaffen worden und nicht das Scheitern des Babel-Baus, sondern dessen nie endende Weiterführung führt zu allergrößten Schwierigkeiten. „Um den Turm zu Babel niederzureißen, den sie so prachtvoll errichtet hatten, benötigten seine Erbauer zahllose Jahre. Ebenso lange Zeit war notwendig, um ihre Sprachen zu verwirren.“

Erst nachdem die Sprachen verwirrt wurden, konnte eine emanzipierte, vom Turmbau befreite Zivilisation entstehen. Von anderer Gestalt sind einige poetologische Etüden, wie jene Science-Fiction-Erzählung aus ferner Galaxie, die eher eine biografische Einfühlung ist, eine Phantasie über den höchst eigenwilligen Kreativprozess. In dieser fernen Galaxie gibt es sogenannte BURNhardiner und Philosoffen – man stellt sich bei letzteren grübelnde Affen vor –, die allerdings nicht, wie bei Kafka, einen „Bericht für eine Akademie“ verfassen, sondern eher Störerscheinungen des besagten Kreativprozesses sind. Denn diese Galaxie, das wird deutlich, ist die fremdreiche Innenwelt des Prager Schriftstellers, der am Ende resigniert die galaktische Reise abbricht mit den Worten: „Auf diesem Planeten werde ich nicht alt!“

Rätselbuch für Connaisseure

Es gibt in einer anderen Etüde Menschen, die urplötzlich mit dem Talent des selbsttätigen Fliegens gesegnet werden und gleich zu Beginn wird ein namenloses Kollektiv durch wildfremde Hunde gehetzt, die an ihnen kleben wie Schatten. Nächtelang spüren die Gejagten diese offensichtlich lebensbedrohliche Gefahr im Rücken. „Manchmal traf uns ein Spritzer ihres Geifers in der Finsternis, oder ihre Lefzen berührten uns mit widerlicher Zärtlichkeit. Wir drohten mit ihnen zu einem einzigen panischen Körper zu verschmelzen der über die abschüssigen Pfade durch die Landschaft hetzte, mit der Ausweglosigkeit eines Sturzes.“

Die Auslöschung ist permanenter Horizont dieser Geschichten, die als Etüden trefflich bezeichnet sind, behandelt doch jede eine spezifische, auf das Innerste der Kunst zielende Schwierigkeit. So ist „Kafkas Schere“ eine der stilsichersten Überschreibung dieses hundertsten Jubiläumsjahrs. Thomas Lehrs Band erscheint als verrätselte Tour de force durch einen Kosmos, der immer wieder neu das Absurde mit der Hoffnung konfrontiert. Man fühlt sich anfangs wie jener Mann, der in einer von Kafkas berühmtesten Parabeln gehindert wird, vor das Gesetz zu treten. Doch wenn einem erstmal – anders als Josef K. – der Eingang geglückt ist, wartet die Lösung zahlreicher Rätsel. „Kafkas Schere“ ist ein Rätselbuch für Connaisseure, eine Lektüre für literarische Bastelfreunde und eine der avanciertesten Aneignungen der gerade stattfindenden Kafka-Festspiele.

Thomas Lehr: „Kafkas Schere“, Wallstein, Göttingen, 84 Seiten, 18 Euro

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