Mit „Die Welt im Rücken“ offenbarte Thomas Melle 2016 seine manisch-depressive Erkrankung – und er hoffte, die schwersten Krisen kehrten niemals zurück. Jetzt erscheint, wie mit letzter Kraft getippt, der autobiographisch grundierte Roman „Haus zur Sonne“. Eine Frage steht im Raum: Ab wann ist ein Suizid gerechtfertigt?
Die Katastrophe ist erneut geschehen. Eine alles verschlingende Manie hat den Ich-Erzähler überwältigt, „intensiver und länger denn je“ – ihn hinabgestoßen in die Hölle seiner Seelenkrankheit. Die Qualen hatten sich schlimmer und zerstörerischer als je zuvor angefühlt. Dabei hatte der Mann in den vergangenen Jahren alles in seiner Macht Stehende unternommen, um das Unheil abzuwehren. Er hatte seine Medikamente dosiert, den schlimmsten Süchten entbehrt, sich aus horrenden Schulden herausgearbeitet, wieder Fuß gefasst im Arbeits- und Alltagsleben. Er hatte sogar eine Liebesbeziehung begonnen. Doch auch diese sollte an den Klippen seines manischen Sturzes zerschellen.
„Jede Manie nimmt einem etwas, nimmt einem sogar sehr viel, aber diese, die letzte Manie, sie hatte mir wirklich alles genommen. Ich hatte gehofft, mit meinem damaligen Buch über die bipolare Störung auch für mein Leben nachhaltig etwas geordnet und abgeschlossen und dieses Monstrum von Krankheit vielleicht auf irgendeine Weise domestiziert zu haben. Wer sich derart mit den Symptomen und Vorzeichen auseinandergesetzt hatte, sprachlich und reflexiv, der konnte doch darauf hoffen, auch im realen Leben auf besondere Weise sensibilisiert und gefeit zu sein? Nein? Ich hatte mich bei der Niederschrift des Buches noch einmal mit aller Kraft gegen die Krankheit gestemmt – und verloren.“
Abschluss einer Trilogie des Wahnsinns
Mit „Die Welt im Rücken“ hat Thomas Melle seine manisch-depressive Störung offenbart. Ein nächster Roman erschien 2022 – die ihrerseits manisch erscheinende Geschichte über ein sinnentleertes Ehepaar, das sich ins erotische Chaos stürzt, um darin unterzugehen. „Das einfache Leben“, so der Titel, war keine autobiographisch markierte Geschichte, doch ihr rastloser Plot passte zum Autor, war grenzüberschreitend wie alles, was Melle bislang geschaffen hatte. Das Buch wirkt wie der mittlere Teil einer Trilogie des Wahnsinns, die mit dem nun erscheinenden, teilweise die Realität verlassenden „Haus zur Sonne“-Band ihren gewaltigen Abschluss findet. Angelehnt an das gleichnamige Theaterstück Melles von 2006 wird noch einmal über jene Raserei berichtet, die domestiziert schien nach „Die Welt im Rücken“, nach diesem Roman, der hoffnungsfroh endete.
„Was ein Irrtum, was eine Idiotie. Mit meinem nächsten manischen Schub hatte das Buch, so schien es mir leider, all seine Legitimation verloren. Und überhaupt, ich war nun kein Schriftsteller mehr, sondern bloßer Patient, dem alles wieder um die Ohren geflogen war. Mein Gehirn war geschrumpft, meine Fähigkeiten am Nullpunkt. Das Buch war sinnlos, fast so sinnlos wie ich selbst. Ich musste weg, weg, weg.“
Ich bin erloschen
Der Erzähler ist am letzten Tiefpunkt seines ohnehin von Tiefpunkten zerklüfteten Lebens angelangt. Er ist von der Paranoia noch einmal in einen tiefschwarzen Seelenabgrund gestürzt. Dieser Mann von fünfzig Jahren will sein restlos erschöpftes Leben beenden: weg, weg, weg. Er glaubt, er habe alles verloren, außen und innen. „Ich bin erloschen. Wenn ich es nur hätte schaffen können, mich aus diesem Kokon aus Schuld, schlechtem Gewissen, Enttäuschung und Lethargie zu befreien, ihn aufzureißen und Licht und Luft hereinzulassen.“
Das Enervierende dieser Selbstanklage, dieser monotonen Litanei, die schon Kaddisch auf den Sprechenden ist, dieses Rekursive erscheint strukturgebend für Melles Roman, der als Wiederholung des schon so oft Wiederholten angelehnt ist. Schon vor neun Jahren schrieb er: „Wenn Sie manisch-depressiv sind, hat Ihr Leben keine Kontinuität mehr. Was sich vorher als mehr oder minder durchgängige Geschichte erzählte, zerfällt rückblickend zu unverbundenen Flächen und Fragmenten“.
Einer flog über das Kuckucksnest
Um dieser Fragmentierung, um diesen Lebens-Loops zu entkommen, begibt sich der Erzähler des neuen Romans in eine Dystopie. Er gelangt in eine staatlich alimentierte Euthanasieklinik. Das fiktive „Haus zur Sonne“ finanziert lebensmüden Menschen einige glückliche Wochen, bevor seine „Klienten“ mit dem Mittel ihrer Wahl getötet werden. Bis es soweit ist, werden ihnen mithilfe der virtuellen Realität alle Sehnsüchte erfüllt – zu ihrem Wohle und dem des Staats. „Es ist zwar ein Modellprojekt. Aber es wird sich zeigen, am Ende kommt er billiger weg, und die Klienten finden ihr Glück.“
Der überwiegende Teil dieses Romans spielt in besagter Klinik, zeigt die Gruppentherapien und die einzeln erfahrenen Virtual-Reality-Sitzungen. Er folgt den lebensmüden Gesprächen ebenso wie den Verhandlungen mit dem übergriffig wirkenden Pflegepersonal. So ist dieses Buch angelehnt an die großen Psychiatrieromane des 20. Jahrhunderts wie Ken Keseys „Einer flog über das Kuckucksnest“, Tove Ditlevsens „Gesichter“ oder Rainald Goetz’ „Irre“. Auch Melles Geschichte sucht den vermittelnden Austausch mit seinen Leserinnen und Lesern.
Leid mit Erlösungsversprechen
Der Erzähler möchte sein deviantes Handeln all jenen erklären, die bereit sind, ihm, dem Schwerkranken, zuzuhören. So schreibt der Mann Briefe, „zumindest ein paar Zeilen, an die verbliebenen Freunde, an die Verwandten, selbst an die verlorenen Freunde und Bekannten – um mich zu entschuldigen, aber auch, um noch einmal einen Moment der Gemeinsamkeit zu ermöglichen, eine Umarmung anzubieten, irgendwann, wenn sie es lesen würden.“
Thomas Melles Roman wirkt, als sei jeder einzelne Satz der tiefen Verzweiflung abgetrotzt. Er zeigt, dass sich niemand umbringt, weil er sterben möchte, sondern weil er nicht mehr leben kann – er zeigt aber auch einen Weg hinaus, bietet einen abschließenden Lichtblick. Doch trotz dieses Lichts ist „Haus zur Sonne“ ein weiteres großes Schmerzensbuch des manisch-genialischen Thomas Melle, ein Roman, der dem eigentlich Unsagbaren einen Begriff verleiht, dem Rätselhaften eine Deutung gibt, und dem Leiden ein Erlösungsversprechen gegenüberstellt.
Thomas Melle: „Haus zur Sonne“, KiWi, Köln, 320 Seiten, 24 Euro