In dreißig Minuten Stunde geht’s los mit den Lesungen in Klagenfurt, dann werden die 49. Tage der deutschsprachigen Literatur heißlaufen – bei bereits jetzt 32 Grad Schattenhitze. Wie immer findet alles statt im kleinen Rund des ORF-Theaters. Der berühmteste Lese-Wettbewerb im deutschsprachigen Raum präsentiert heuer Texte, deren Autorinnen und Autoren, im Anschluss jeder Lesung wird diskutiert – mitzuerleben über 3sat und Dlf „Dokumente und Debatten“ Einigermaßen kühlen Kopfes sitze ich bereits im Garten des ORF und werde von hier nach jeder Lesung etwas schreiben. Wir sehen uns am See. Einen Ausblick gibt es hier, eine Kritik der gestrigen Rede zur Literatur hier.
Das sei alles „schon so lange her, dass ich nicht mehr aus Moskau komme“, sagt Boris Schumatsky (*1965) im Porträtvideo – und ergänzt: „ich komme aus der Geschichte“. Man denkt unweigerlich an Peter Handkes Selbstverortung: „Ich bin ein Schriftsteller, ich komme von Tolstoi, ich komme von Homer, ich komme von Cervantes.“. In „Kindheitsbenzin“ erscheinen Schumatsky während eines vorgestellten, aber dann durch einen Brief (durch Sprache) ersetzten Aeroflot-Flugs zu seiner Mutter nach Russland: Bilder seines Aufwachsens in der Sowjetunion („In Moskau war Tauwetter, kein politisches, überall lag noch Schnee. Es war das erste Wochenende des kalendarischen Frühlings, der Tag im Jahr, an dem die meisten Nachbarn die Abdeckplanen von den Autos nahmen, um zum ersten Mal nach dem Winter auf die Datscha zu fahren“). Er spricht über seine Auswanderung nach Deutschland, über Paul Celans „Todesfuge“ und Vladimir Nabokov Grammatikbuch zu Gymnasialzeiten, aus dem er „später in Paris, in dem letzten Buch, das er auf Russisch schrieb“ zitiert: „Der Spatz ist ein Vogel. Russland ist unser Vaterland. Der Tod ist unvermeidlich.“ Nun ist Russland im Krieg, ein Aggressor: „In meiner hinteren Hosentasche steckt eine Pentobarbital-Tablette, die ich nehmen werde, wenn sie mich verhaften.“ Die Schrecken werden vermittels dieser Tablette mit dem Nationalsozialismus verglichen, auf eine Weise, die das Zeug hat zu einer Aktualisierung des Historikerstreits von 1986/87, als die Lager Ernst Nolte vs. Jürgen Habermas um die Singularität der Shoa stritten. Schumatsky schreibt: „Die Mutter von Paul Celan haben sie auch getötet, andere Mörder. Meine Mutter lebt noch, aber zwei Reihen vor mir im Flugzeug sitzt einer von denen, die sie schon immer quälten, Wort für Wort, ihr ganzes Leben lang. Sie sagten: Sieg, und meinten: Mord.“ – wie die Sprache des Krieges unmoralisch dargestellt wird, findet Mithu Sanyal faszinierend, „das ist eine erzählerische Sprachreflexion (…) über Muttersprache, Mördersprache, Exilsprache“, sagt Thomas Strässle. „Die Genauigkeit der Beschreibung“ lobt Klaus Kastberger. „Das ist der interessanteste und beste Text in diesem Jahr“, schließt Mara Delius.
Wie Physiker Thomas Bissinger hat auch Tara Meister eine Doppelbegabung, steht auf einem Stand- und einem Spielbein: Die 1997 geboren in Frauenchiemsee hat Humanmedizin in Wien studiert und macht gerade ihren Facharzt in der Gynäkologie. Im ORF-Garten sagte sie vorab, dass sie in mehrstündigen OPs um das am Seidenfaden hängende Leben von schwangeren Müttern und Kindern kämpft, vor diesem Hintergrund sei ein Auftritt vor der Bachmann-Jury leichtes Spiel. „Wakashu oder“ heißt ihr Coming-of-Age-Text, und spielt an auf jene im alten Japan der Edo-Zeit (1603-1867) verwendete Bezeichnung für einen adoleszenten Jungen. Als „Wakashu“ bezeichnet die jugendliche Ich-Erzählerin ihren schüchternen Lover. „Sein Ohr ist entzündet, als wir das erste Mal miteinander schlafen. Mir sagt er das erst hinterher. Ich frage, ob es wehtut jetzt, ob es wehgetan hat beim Sex, er sagt nein, nein. Sein Körper liegt ganz unter meiner Hand, warm. Irgendwo schwirrt eine Mücke. Sonst dürfen wir es nicht, sage ich, wenn es wehtut, dürfen wir es nie. Was? fragt er und dreht den Kopf, wendet mir das gesunde Ohr zu, damit er mich verstehen kann. Seine Augen sind gelb, wie Butterblumen. Es ist sein erstes Mal, begreife ich, spüre einen Stich, schlage zu und zerreibe die Mücke zwischen den Fingern.“ Sie ist die souveräne Person dieser Zweierkonstellation, sie definiert ihn, ist die Tonangebende, die Definierende, während ihr Freund ratlos erscheint. Anders als bei Almut Tina Schmidt ist die Frauenfigur keine Rat- und Rastlose, keine, die allein um sich kreist, sondern stattdessen eine Idee von Care-Love hat, nicht nur ihre, sondern auch die Unschuld des Jungen beschützen will. Man erinnert sich an das biblische Hohelied der Liebe, an den mittelalterlichen Minnesang (die zahlreichen Reh-Bilder, die sich bei Meister von den „Reh-Augen-Bildern“ emanzipieren), hört aus der Ferne Heinrich Heines „Lore Lay“ und selbst die Butterblume kann nur als Hinweis auf Döblin gelesen werden. – In der anschließenden Diskussion zieht Mithu Sanyal diese ästhetische Sonderleistung kurz hinunter in die Niederungen des Atmosphärisch-Gefühligen, sieht sich ausgeschlossen, was Thomas Strässle aufgreift und zustimmt, „es ist kein Text, der es einem einfach macht, hineinzukommen“. Auch Klaus Kastberger ist „Wakashu oder“ schlichtweg „zu viel Theater“ – aber vermutlich haben diese 49. Tage der deutschsprachigen Literatur nun aber wirklich: einen Gewinnertext aufs Podium eingeladen.
Almut Tina Schmidt (1971 in Göttingen geboren) las mit „Fast eine Geschichte“ den dritten gegenwartsdiagnostischen Text dieses Bewerbs – nach dem unmittelbaren Vorgänger „Daughter Issues“ von Nora Osagiobare und Josefine Rieks’ „Dinner, Freitagabend“ des gestrigen Tages. Die ignorante Ich-Erzählerin berichtet zwar von einer anderen Frau – von einer Martina – und kreist dennoch ausschließlich um sich selbst: „Ich hatte nicht gewusst, dass Martina Rettungsschwimmerin war.“ / „Ich weiß nicht, warum ich länger gedacht hatte, Martina sei in dem Haus, in dem wir wohnten, nur zu Besuch. / “ Ich wusste auch lange nicht, dass Martina Martina hieß.“ Berichtet wird berichtet aus einem Mehrfamilienhaus, in dem verschiedene, an den Trad-Wife-Kosmos offenen Konstellationen erodieren: „Als ich zum ersten Mal begriffen hatte, dass es nicht weiterging mit Leo und mir, drückte ich ihm stumm den Nissenkamm in die Hand und stürmte aus der Wohnung, um nicht zu schreien.“ Heim ist auch hier erneut eben nicht das Gegenteil von unheimlich. Philipp Tingler identifiziert einen der schönsten Sätze des gesamten Bewerbs: „Sibylle trug eine Frisur, die ich noch nie an irgendeinem Menschen gesehen hatte.“ Mithu Sanyal fühlt sich an Wimmelbilder von Ali Mitgutsch erinnert, Thomas Strässle bewertet die Ästhetik als „sehr virtuos“ und erwähnte nicht zu Unrecht eine gewisse ästhetische Nähe zu den Fast-Geschichten von Peter Bichsel. Klaus Kastberger findet die Beobachtung eines aus dem Rucksack schauenden Lauchs wunderbar, als hätte Benjamin von Stuckrad-Barre nicht ein ähnliches Bild vor fast 30 Jahren wesentlich lustiger in „Soloalbum“ verwendet: „Denn natürlich hat er eingekauft, die Frau liegt wahrscheinlich schon wieder schwanger auf dem Sofa, hat keine Lust auf Sex und riecht nach Gemüserülps. Für die nächsten Rülpse ist gesorgt, der Fahrradkorb hinten ist voll mit lauter Frischungesund.“
Mit „Daily Soap“ hat die 1992 in Zürich geborene Nora Osagiobare vor wenigen Wochen ihren Debütroman bei Kein & Aber vorgelegt – eine Geschichte, die Alltagsrassismus mit Boulevardmedien verbindet: Als das Familienunternehmen Banal & Bodeca einem heftigen Shitstorm erlebt, soll eine Reality-Show das Business retten, mit einer Sendung, in der ausschließlich schwarze Darsteller auftreten. In Klagenfurt bleibt Osagiobare im gesellschaftskritisch inszenierten Trash-TV-Kosmos. „Was geschieht, wenn wir einem Vater eine Million anbieten, unter der Bedingung, den Kontakt zu seiner Tochter für immer abzubrechen? Wird er durch das Geld zum ersten Mal erkennen, wie sehr er seine Prinzessin wirklich liebt, oder wird er danach greifen, ohne mit der Wimper zu zucken? Wir finden es heraus in ‚Daddy Issues – die schlimmsten Väter der Welt’.“ Ein Fernsehteam begleitet mehrere Vater-Tochter-Duos unter dem Vorwand, die Männer müssten beweisen, wer sich am besten um seine „Prinzessin“ kümmert. Nach einiger Zeit soll das tatsächliche Sendungskonzept enthüllt werden. Doch vor allem die zynischen Produktionsangestellten offenbaren ihre bedürftige-demoralisierte Tinderopfer-Verfasstheit, ihren erbärmlichen Psychoblick auf unsere Welt, die sich keinesfalls aus überwiegend bindungslosen Trotteln formiert: „Ich hatte ganz vergessen, wie nötig Diana es hat. Sie hält es keine Sekunde aus ohne die Aufmerksamkeit eines Mannes. Ausser sie hat Drogen, aber bis jetzt hatte sie ja noch keine. Geduld hat sie nämlich auch nicht.“ Osagiobares Story radelt auf kleinstem Kettenblatt durch diesen Bewerb – mit einer Geschichte, die sich umweltoffen zeigt gegenüber New Romance, Trash-Sparten und BookTok-Trends unserer illiteraren Gegenwart. „Das ist ein Siegertext“, eröffnet Klaus Kastberger die Jurydiskussion. Alle bescheinigen der Autorin ein „unglaubliches Talent“ (Laura de Weck), der Schluss sei „grandios“. Philipp Tingler geht in eine Differenzanalyse, bemerkt eine „fehlende Präzision“ und schließt: „Rein absolut gesehen finde ich sehr wohl, dass es hier sprachliche Klischees durchaus gibt – „da steckt mir nicht genug Arbeit hinter.“
„’Nicht schlecht, mein Junge’, sagt Uwe, und ahnt nicht, was das bei Paolo auslöst.“ Kay Matter schloss diesen Bachmanntag ab mit seiner Außenseitererzählung „Doppelzweier Leichtgewicht“, eine nonbinäre, vermeintlich jugendliche Person vorstellend, die als Aurora auf die Welt gekommen ist, nun aber als Paolo durch die Adolszenz streift. Paolo, augenscheinlich vor der Transition stehend, sucht Gemeinschaft und männliche Gesellschaft – in einem Ruderclub. „Von hinter dem Clubhaus ist das dumpfe Aufprallen eines Basketballs zu hören, dazwischen das Rasseln der Kette am Korb. Paolo atmet tief in die schmerzende Brust ein. Der Binder quetscht seine Rippen zusammen und drückt auf die oberen Wirbel. Zwischen Paolo und dem Jungen erstrecken sich 100 qm Kunstrasen. Paolo überlegt, zum Steg hinunterzugehen, um die Boote der U19 ausmachen zu können, mit der die Trainerin grade trainiert, aber er weiß nicht, ob der Junge die Hand zu einem Handschlag heben wird, den er nicht geübt hat, nie üben konnte, oder ob er von einem gemeinsamen Code ausgehen wird, wie: – ‚Hey Bro’ – ‚Na Bro’ – ‘Was geht’ – ‚Läuft’“. Über Codes denkt Matter bereits im Porträtfilm nach, über den Wunsch, jene Lücken in vorgeformten, vordefinierten Sprachgebilden zu finden (warum es Soja“drink“, aber nicht mehr Soja“milch“ heißen darf). „Ich möchte weiterlesen“, sagt Laura de Weck. Für Menschen, die über Queer-Theorie informiert sind, „passiert relativ wenig“, urteilt Mara Delius. Klaus Kastberger gibt sich uninteressiert, vermutet, diese Geschichte sei „ für eine andere Strecke gemacht, sehr langsam in der Entwicklung, das spricht gegen den Text. Mehr habe ich nicht zu sagen.“
Nach Ralf Bönt, der 2009 den Kelag-Preis gewann, trat mit Thomas Bissiger ein weiterer promovierter Physiker beim Bachmann-Bewerb an (auf Einladung von Mara Delius). „Literarisches Erzählen und physikalisches Forschen beginnt oft im selben Keim: mit Neugier, Faszination, Es ist immer ein Versuch, möglichst lang im Unbekannten zu bleiben“, sagt Bissinger im Porträtvideo. Er las aus seinem großen „Ehrenfest“-Roman, der 2026 bei dtv erscheinen wird. Jacob Kloot und Galinka (Galja) Ehrenfest waren ein Paar, das während der deutschen Besatzung der Niederlande Kinderbücher und -spiele unter dem Namen „‚El Pintor'“ veröffentlichte. Kloot wurde 1943 verhaftet und im Vernichtungslager Sobibór ermordet. Ehrenfest aber, die zu diesem Zeitpunkt schwanger war, haben die Nazis freigelassen, nachdem sie ihren Peinigern eine erfundene Geschichte erzählt hatte: Fiktion als Lebensrettung. Eine Geschichte, die erneut mit Rissen spielt. „Die Wand hat Risse und Löcher. Galja zieht die Decke dicht. Die Zelle ist eng, ein Meter und das Stahlbett darin. Über ihr gehen die Moffen. Moffenschritte schneiden den Atem kurz. Soldaten an Schreibmaschinen, und immerzu Polter. Denkhitze in ihrem Schädel, Galja denkt: Jaap, Mama, alle. Hilft nicht, hilft nicht. Sie starrt auf die Risse. Namen wettern in ihrem Kopf. Nein. Nein. Sie legt sich die Hand auf den Bauch. Unter ihren Lungen ist’s ruhig.“ Bissinger zeigte hier in Klagenfurt einen Ausschnitt, einige Episoden, eröffnend 1938 am höchsten Berg der Niederlande (niedliche 332,4 Meter über NN), weiterführend in die Katastrophe: ins KZ Hertogenbosch 1943, nach Amsterdam 1943, da hat sich Ehrenfest bereits gerettet. Eine wissenschaftlich-akribische Annäherung an die Shoa, eine deutsche Erinnerung an die Besatzung der Niederlande (wie es in diesem Frühjahr auch Ralf Rothmann versucht hat – und daran gescheitert ist). „In diesem Text ist kein Wort am falschen Platz“, urteilt Tingler, Mara Delius pflichtet bei, Thomas Strässle lobt die engagierte Lesung, Laura de Weck die sehr eigene Sprache des Autors („Bissingerisch“). Zwei Bachmann-Favoriten gibt es zur Halbzeit: Natascha Gangl und Thomas Bissinger mit seinem „Nilpferd“-Text.
Die Story zum 2025 Longevity-Trend präsentiert Josefine Rieks mit ihrer Geschichte, die ein idiosynkratisches „Dinner, Freitagabend“ vorstellt – inkl. popkulturellem Namedrop-Gewitter (eingeladen zum Bachmann-Preis selbstverständlich von Philipp Tingler). Am Berliner Savignyplatz wohnt Juliana mit den „flauschigen Slippern von Jimmy Choo“, auf geölten Dielenböden und offener Küche im Landhausstil, im gegensätzlichen Interieur der Autorin, die im Porträtfilm als Bewohnerin einer Wiener Sub-Standardwohnung gezeigt wird (immerhin fußläufig des hippen Yppenplatzes). Juliana gibt ein Abendessen mir Sommerrollen: Violetta ist gekommen, Omara in ihrer schwarzen Taillen-Jeans (sie hat „einen gekühlten, alkoholfreien Chardonnay von Carl Jung dabei), Bea Lou in Netzstrümpfen und Alex („er trägt ein dünnes, terracottafarbenes Rollkragenshirt in Rippoptik“). Ein kuratierter Freundeskreis. An diesem kurzen Abend – aus offensichtlichen Vernunftgründen verlassen die letzten Gäste um 21 Uhr das Treffen – werden BMI-Werte kommentiert und Ergebnisse von DNA-Analysen ausgetauscht: eine Selbstoptimierung als Körpertechnik gegen die Unsicherheit in einer Distinktionswelt, die „Natürlichkeit“ allein über das Künstliche herstellen kann: „Sie sieht so gut aus. Diese Natürlichkeit. Ich könnte nie so aussehen:“ Ein hochironischer, mehrfachcodierter Text, der einen unheimlichen „Wahnsinn der Normalität“ zelebriert, im hübschen Kontrast zum Einspielfilm, in dem wir u.a. Prefab Sprouds „Swoon“-Album sehen, Any Rands philosophisch-literarisches Opus Magnum „Der Streik“ (die Autorin fiel kurz darauf in eine tiefe Depression), Gedichte von Wolf Wondratschek, Maxie Wanders „Guten Morgen, du Schöne“ – und diese geprayte TikTok-Losung: „Kein Gott, kein Staat, kein Suhrkamp-Verlag“. Selbstverständlich heißt der Fitnesstrainer Jean Paul und der alkoholfreie Chardonnay trägt ein „Carl Jung“-Label. „Vor dreißig Jahren hätten wir sowas noch Popliteratur genannt“, sagt Klaus Kastberger, „der Witz nützt sich rasch ab. – ein Zero-Literature-Text.“
„Sickergrubenblau“ erzählt wieder mal „Nichts, was uns passiert“ – wie im immersiven Vergewaltigungsfolge-Roman von Bettina Wilpert. „Wie tief, frage ich mich, müsste der Schnitt mit dieser Schere in die Haut gehen, damit ich ihn wieder spüren kann, den Schnitt, wie tief, wie tief, bis diese Haut wieder irgendwas spürt, außer seinen Fingern auf ihr, wie viele noch, wie…“ Lisa ist während eines ersten Dates mit „K.-o.-Tropfen“ betäubt, in eine fremde Wohnung verschleppt worden. Kurz darauf wird sie von Trauma-Effekten geschüttelt, von Intrusionen und Flashbacks heimgesucht, von einer kaum aushaltbaren Wut, die sie vor sich selbst zu verbergen sucht. Lisa zweifelt an ihrer Erinnerung, sie spürt, dass sich eine unheimliche Fühllosigkeit ihres vergewaltigten Körpers bemächtigt hat, ihres Körpers, der einen Übergriff erinnert – einen Übergriff, den ihr beschädigtes Hirn, ihre Bewusstsein zu verdrängen sucht. Die 1987 in Potsdam geborene Sophie Sumburane seziert in klarer, sortierender Sprache das Gefühls- und Gedankenchaos einer Frau, die hochbewusst ins Gespräch eingreift, wenn jemand gedankenlos „Schamlippen“ sagt, statt: „Vulvalippen“ – deren Sprachsensibilität also kollidiert mit der Vulnerabiltät ihres Körpers. „Sickergrubenblau“ erscheinen die Augen des Vergewaltigers, der komplett anders als sein Opfer auf die Wirklichkeit schaut. „Und das ist die Wahrheit“, sagt die verunsicherte, an der Wahrheit zweifelnde Lisa irgendwann. Der Text von Sophie Sumburane als Versuch, einer Verunsicherung wenigstens die eigene Wahrheit entgegenzusetzen, eine nach Fatima Khan gestern, auch an diesem Tag gehörte Auseinandersetzung mit Sprache, die sich in Körper einschreibt, mit der Trauma-Erinnerung außerhalb des Bewussten. Dass K.-o-Tropen auch die Sprache K.o. machen, ausknocken, bemerkt Laura de Weck. „Ich finde diesen Text hochgradig konventionell. Es ist alles sehr eindeutig Es wird sehr viel expliziert. sogar diese anfänglich schwebende Situation – was ist passiert – wird auserzählt“, kritisiert Philipp Tingler, der vorher lobenden Bewertungen keinesfalls zustimmen möchte: „Es gibt null Zwischentöne in diesem Text. Das ist alles generic, Standard.“
Der bislang avancierteste Vorlesetext kommt von der österreichischen Schriftstellerin und Klangkünstlerin Natascha Gangl (*1986) die mit „DA STA“ („Ja, warte“ bzw. „Da sind“, steirisch „der Stein“) eine wilde Mundartkaskade performed hat. Der Plot ist (ähnlich wie gestern bei Max Höfler) lediglich annäherungsweise rekonstruierbar: eine Person recherchiert an der österreichisch-slowenischen Grenze über die Errichtung des „Südostwalls“, der im Zweiten Weltkrieg die anrückende Rote Armee aufhalten sollte. Ein Teil dieses Walls verlief in unmittelbarer Nähe Klagenfurts. Mahnmale („windig gewendet stehen die Zeichen auf Grenzsteinen, Gedenksteinen, Grabsteinen.“) erinnern an die einst geknechteten Zwangsarbeiter, an die Erschossenen und an die Toten: „Was heißt Südostwall? / War das keine Mauer, kein Zaun, war es ein Graben? / Haben sie die Grenze ins Gesicht der Erde hier eingenarbt? / Wussten die Grabenden von der Länge? / Wer konnte sich vorstellen, wie weit das ist: „von der Kurischen Nehrung an der Ostsee bis in die Nähe von Belgrad“? / Sind es Gräben, die Panzer verstecken? / In die Panzer ‚einifoan und aussischiaßn’? / Wie lange wurde gegraben? / Mussten alle mitgraben, die gebracht wurden? / Wer wurde gebracht? / Und mussten alle mitgraben, die noch da waren? / Wer war noch da? / Waren es „in Anbetracht der fehlenden Männer – Frauen und Jugendliche“? / Waren es ‚allein 6000 Grabende’ hier in der Gegend?“ Es treffen aufeinander: Lautpoesie und Langgedicht, Mundart/Dialekt, Vogelstimmen-Imitationen, es hat einen Josef-Winkler-Vibe, es kommen Risse vor, Grenzen und Spiegeln, was „DA STA“ zum erwartbaren Bachmann-Text macht. Mara Delius lobte die Performance. „Ich finde den Text genial“, urteilte Thomas Strässle. Auch Avantgarde-Professor Klaus Kastberger bemerkte eine „unglaubliche Leistung“ – dass durch die Lesung die tiefere Bedeutung von „DA STA“ deutlich wird (im für uns undeutlichen Kärtner Dialekt) fasziniert diese Jury, die sehr gut herausgearbeitet hat, weshalb Natascha Gangl den bisher besten Text vorgelesen hat. Philipp Tingler: „Dieser Text lebt durchgehend von einer extrem hohen sprachlichen Souveränität.“
Ohne echten Plot, eher als Recherchesammlung erscheinen Verena Stauffers „Die Jäger von Chitwan“. Die österreichische Lyrikerin, in diesem Jahr ist sie bereits im Deutschlandfunk-Lyrikgespräch aufgetaucht mit der kiny „Kiki Beach“-Sammlung, jetzt kam die Prosa. Sie reist nach Nepal, wo Hunde von Tigern gerissen werden, die Grenzen aufgelöst werden zwischen (Raub-)Tieren und (Raub-)Menschen. Eröffnend ist ein Frühstückskellner der „Tiger Tops Jungle Lodge“ unbeherrscht gegenüber einer jungen Frau: „Er verfolgt sich bis vor ihr Zimmer, er schreibt ihr auf Insta, er redet davon, mit ihr nach Europa zu wollen“. So beginnt die ausufernde Text-Collage, die von kriegerischen Auseinandersetzungen berichtet, sich erstaunt zeigt, ob der: „Tierjagd. Menschenjagd. Stimmenjagd. Jagd auf die Demokratie, Jagd auf die Religion. Jagd auf Rohstoffe. Jagd auf Erdgas, Erdöl. Jagd auf Wasser. Jagd auf Süßwasser. Jagd auf Kristalle. Jagd auf seltene Erden. Jagd auf Silicium. Jagd auf Wasser, Tropft irgendwo Wasser. Dort wo kein Regen mehr fällt.“ Eine Weltkrisen-Schau, die wichtig, aber literarisch unentschlossen wirkt: „Der Kellner der Tiger Tops Jungle Lodge reist dem Mädchen bis nach Kathmandu nach. Wie ein Gespenst sieht sie ihn, wann immer sie sich umdreht, um eine Ecke lugen, sich hinter einem Gemüsestand verstecken und als sie im Flugzeug sitzt, abhebt und nach unten schaut, glaubt sie, ihn am Dach des Flughafengebäudes zu sehen (…) die Tiger reißen Menschen. Jedes Jahr sterben der Sammler viele.“ Philipp Tingler ist ratlos und fragt in die Runde: „Worum geht es im Text?“ Das aber konnte die Jury bis zum Ende ihrer Diskussion: kaum erhellen.
Anfang dieses Jahres erhielt Regisseurin Laura Laabs den „Preis der Filmkritik“ beim Saarbrücker „Filmfestival Max Ophüls Preis“ für ihr Spielfilmdebüt „Rote Sterne überm Feld“ – eine experimentelle Auseinandersetzung über eine fiktive linke Aktionsgruppe, in dem sich Postkommunismus, Performance und Poststrukturalismus die Hand geben: Eine Aktivistin versteckt sich in ihrer Heimat, und trifft im mecklenburgischen Bad Kleinen Neonazis, Ostalgiker, Till Lindemann als Erlkönig, Windkraftgegner, Opfer der LPG-Abwicklungen, Mythen über den fatalen GSG-9-Einsatz in Bad Kleinen, bei dem RAF-Terrorist Wolfang Grams erschossen wurde. Über allem: der lange, dräuende Schatten des Zweiten Weltkriegs. Die Autorin selbst hat einen ostdeutschen „Kulturbürgerbackround“ (O-Ton im Porträtfilm), als Tochter der DDR-Künstler Daniela Dahn und Joochen (tatsächlich mit zwei „O“) Laabs, als Enkeltochter des Stasi-IM und Journalisten Karl-Heinz Gerstner, als Urenkelin des NS-Kriegsverbrechers Karl Ritter. Im Herbst dieses Jahres erscheint ihr Debüt „Adlergestell“, trotz ihrer Aussage: „Nichts braucht die Welt weniger als noch ’nen Text von mir“. In Klagenfurt gibt es einen ebenfalls mit „Adlergestell“ übertitelten Nebentext über den Herbst 1990, als Laabs eingeschult wurde und sich zugleich erster Widerstand im Adlergestell formierte, der längsten Straße Berlins im Bezirk Treptow-Köpenick, wo die Geschichte als Trümmerhaufen beschaut werden kann, und das Gelände des Wachregiments „Feliks Dzierzynski“ liegt, des militärischen Stasi-Arms. Ein Aufstand formiert sich: „Ich spürte ein Prickeln in meinem Kopf, das in alle Nervenbahnen schoss. Das war keine Angst. Das war eine Lust. IM NAMEN EURER VEREINTEN KRÄFTE! Vielleicht waren wir ja doch wer.“ Am Ende landet die querfrontpolitisierte Heldin in einem unguten Hufeisen zwischen AfD, Pegida oder BSW. Coming of Age trifft Aktionismus. Mithu Sanyal fühlt sich „umgehauen“, Thomas Strässle hingegen ist der Werdegang der Figur „zu einfach“, er habe „selten einen Text gelesen, der sich am Ende so sehr ins eigene Knie schießt.“ In der anschließenden Diskussion sich Laura Laabs immer wieder charmant ein und bietet Philipp Tingler abschließend an: „Wir können uns auch mal privat treffen.“ Eine Autorin ist hiermit gesetzt, das Debüt erscheint am 16. August.
Vor der Mittagspause trat einer der wenigen Männer dieses überwiegend weiblich besetzten Bachmann-Bewerbs an: Max Höfler aus Graz, einer Stadt, die schon lange für avantgardistisches Schreiben steht, für Sprachlust und –spiel. „Hallo, Freunde! Ich hier, ihr dort!“ So meldet sich im „Lambada Tutto Gas“-Text immer wieder ein TikToker bei seinen Followern: „Und darum gehört es höchstwahrscheinlich auch dazu, hier zu danken. Zu danken, dass ihr mir hier in diesem Kanal eure Augengucker, eure Ohrenwaschl schenkt, eure sicher sehr wertvolle Lebenszeit spendiert. Denn nichts ist teurer als eure teure Lebenszeit, die dann einfach vorbei ist, wenn es aus ist.“ Eine rasante, gleichzeitig mit zahlreichen Versprechen hingestolperte Performance, in der aller Inhalt wurscht erscheint, wenn Höflers Held über Natursekt und zerbrochene Müslischüsseln palavert, sich harsche Kommentare einhandelt: „Alter, was für ein Drama! Du redest über eine Schüssel, als ob das Schicksal der Welt daran hängt. Wie viel Zeit hast du mit deinem Gedöns verschwendet?“ Eben diese Kommentare hat Höfler nicht selbst geschrieben, jedenfalls nicht im konventionellen Sinne, das verrät der Abschluss: „Die kursiven Teile dieses Textes wurden von ChatGPT geschrieben. Prompt: ‚Schreibe eine kurze uns sehr hitzig geführte YouTube-Kommentardebatte zu folgendem Text: ‚Hallo, Freunde! Ich hier…‘“ Die Debatte, in welcher Weise auch ein Prompt Schöpfungshöhe besitzt, drängt sich unweigerlich auf. Dazwischen gab’s 110 Jahre alte Bildtafeln („es war die bisher entzückendste Form, Bilder einzubauen“, bemerkte Mithu Sanyal), die Fotos anthropomorphisierter Katzen zeigen aus „The Little Folks of Animal Land“ des US-amerikanischen Künstlers Harry Whittier Frees. Sie sind das Beste an diesem Text, der sich allerhand Zeugs kulturell aneignet, wie der Autor selbst mit seinen lustigen Dreads. Zum Text: „Das wird’s wahrscheinlich nicht mehr lange geben, das ist eine bedrohte Form – über diesem ganzen Ansatz liegt eine gewisse Melancholie, eine sanfte Tragik“, schließt Philipp Tingler treffend und versöhnlich: „ich fand das ganz sympathisch.“ Großer Abschlussapplaus.
Zentaur: Der Pferdmensch aus der griechischen Mythologie ist Sinnbild des Übergangs in Nefeli Kavouras’ Geschichte, die mit einem Ende eröffnet – und einem ziemlich guten ersten Satz: „Die Beerdigungsgäste sind gegangen, und wir wissen nicht, was wir mit den Kuchenresten anfangen sollen.“ Wie ein Zentaur erschien auch Georg – der Gatte von Ruth und Vater von Lea. Er liegt auf der Palliativstation, halb Mensch, halb Tier, nicht mehr so ganz von dieser Welt: „Aus seinem Körper ragen Schläuche hervor, mein Mann ist ein Oktopus.“ Das Leben der Angehörigen muss weitergehen, ihr Alltag wird unterbrochen von Besuchen am Sterbebett, im Hintergrund erlebt die Tochter eine erste große Liebe. „Ich küsse Max zum ersten Mal und denke dabei an Papa und daran, dass Papa stirbt, und mein Mund wird trocken. Und ich hoffe, ich küsse gut.“ Nefeli Kavouras erzählt in knappen Abschnitten von der Sehnsucht nach Normalität, nach Kontrolle: „Und aus dem Sterbezimmer ertönt ganz hörbar ein Wiehern.“ Möglich, insbesondere nach dieser Jurydiskussion“ dass der Zentaur am Sonntagnachmittag mit einem Klagenfurt-Preis Richtung Hamburg zurückfliegt. Thomas Strässle sieht bemerkenswerter Weise die „Experimentalanordnung“ dieser eigentlich konventionellen Geschichte. Er sei „einer der besten und interessantesten Texte der letzten Jahre – Gratulation“ sagte Klaus Kastberger, „mindblowing“ der Erkenntnisgewinn für Laura de Weck „dass wir alle sterben, und das nicht unbedingt schön“ (sie hat Kavouras eingeladen), während Mara Delius feststellt: „auf der sprachlichen Ebene passiert zwischen Mutter und Tochter gar nicht so viel. Ich hätte mir mehr Tonveränderung gewünscht.“
„Die Madonna in den Trümmern“, das erste architektonische Werk Gottfried Böhms, gibt Fatima Khans in Köln spielender Geschichte Titel und Struktur. Das sakrale Bauwerk wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Bombenschutt gesetzt. Dort, wo es einst dröhnte, ist ein Andachtsraum entstanden. Man schaut in der einstigen Pfarrkirche „St. Kolumba“ (erstmals 980 n.Chr. erwähnt) – zu ihr gehört diese Kapelle – tief hinein in die komplexe Geschichte der über 2000 Jahre alten Domstadt. Fatima Khans Figur schreibt in Köln einen Brief an Abba (bengalisch für „Vater“) – an jenen muslimisch tiefgläubigen Mann, der seine Familie einst aus der Heimat an den Rhein geholt, sich dort aber verloren hat. Fatima Khan, das verrät ihr Bachmann-Film, ist interessiert an „der Architektur einer Stadt“ und an „der Architektur von Familie und Beziehungen“. Ihr Brief literarisiert mäandernd die Erosion zwischenmenschlicher Beziehungen: wie der Vater Körper und Geist seiner Tochter niederbrannte („Deine Sprache, dein Satzbau, deine Schläge sind in mich und meinen Körper eingemeißelt“) – und wie die Tochter, dem entgegengesetzt, später aus den Körper-Trümmern aufsteigt: als Künstlerin. „Ich will einen Text wie St Kolumba in dem die alten Teile eingearbeitet sind und die neuen auch an manchen Stellen scheint das Licht rein manche Stellen sind dunkel andere schnell Madonna in den Trümmern ein Text wie ein Tremor in dem nur die Außenmauern stehen ein Text der eine Narbe ist“). In diesem Narbentext verschränkt Khan das Bild der deutschen Märchenstraße und der Brüder-Grimm-Geschichten mit der deutschen Gewalthistorie, mit dem Kolonialismus, dem Zweiten Weltkrieg, den Morden des NSU, der in Köln oft zu beantwortenden Frage folgend, „wie Gebäude Traumata konservieren.“ Text als Brutalismus, eine Betonkathedrale: „Ich habe mehr Probleme als Gefallen an diesem Text“, sagt Juryvorsitzender Klaus Kastberger und bezeichnet diese auch über das Schreiben nachdenkende Geschichte als „Reiseführerprosa“, dass man dergleichen bereits „hundertmal gelesen“ hat, bemerkt Mara Delius. Dass Mithu Sanyal dann auch noch den Text zu retten sucht, indem sie selbst liest: Anstrengend.