Dem Spießerschreibtum ins Gesicht spucken

Die ersten 638 Briefe Else Lasker-Schülers, aus den Jahren 1893 bis 1913, sind jetzt erschienen. Mehr als die Hälfte werden erstmals publiziert. Dieser sechste Band der kritischen Ausgabe, von Ulrike Marquardt bearbeitet, ist ein 840-seitiger Wortschatz, gehoben im Auftrag der Bergischen Universität Wuppertal, der Hebräischen Universität Jerusalem und des Deutschen Literaturarchivs Marbach. In hartnäckiger, jahrelanger Arbeit wurde freigelegt: Lasker-Schülers Weg in die Moderne. Antwortbriefe fehlen. Allein die Dichterin kommt zu Wort. Das ist schade, ebenso der Verzicht auf einen Abdruck der Zeichnungen (aus Kostengründen; beim Preis der Ausgabe rätselhaft).

Dennoch wird man schon nach wenigen Seiten hingezogen, ins Reich des selbsternannten Prinzen Jussuf von Theben. In einem der ersten Briefe beklagt Lasker-Schüler: „Habe noch immer keine Amore, finde nichts.“ Dieser Satz kann beinahe programmatisch für das rankende Werk selbst stehen. Oftmals bettelarm, doch vom eigenen Talent überzeugt, sucht diese Frau unabänderlich nach Bildern, die eine blitzende, technikgläubige Zeit überblühen. Schreiben findet gegen den Lärm von Draußen statt. Während ein Thomas Mann strenge Arbeitsregeln entwirft, strudelt die Wuppertaler Dichterin durch ein Leben, das sie oftmals nicht zu packen weiß. Unzählig bleiben Bettelbriefe, die zugleich mit nahezu brüskem Stolz formuliert sind. Da wird Tribut für den Hofstaat verlangt, bei Erhalt danken lediglich Prinz und Neger.

Dennoch: nicht jede Mark wird angenommen. Ida Dehmel, die zweite Frau des Schriftstellers Richard Dehmel, wird von Lasker-Schüler kühn abgewiesen. Ihr Angebot, für 1800 Mark eine Frauenbund-Sonderausgabe von „sanftesten“ Gedichten drucken zu lassen, erscheint der selbsternannten Aristokratin unverschämt. Sie lehnt kühn ab. In aktuellen „Geiz ist geil“-Zeiten des kollektiven Verzichtes, zeigt gerade diese Dichterin, wie stilvolles Verarmen funktioniert. Denn mutig ist, wer offen, wie am 13. Mai 1911 in einem Brief an Schriftsteller Karl Krauss bekennt: „Ich möchte dem ganzen Spießerschreibtum ins Gesicht spucken.“

Ulrike Marquardt (Hg.): „Else Lasker-Schüler Briefe 1893-1913“, Jüdischer Verlag, 836 Seiten, 124 Euro / Das Beitragsbild ist von Wikipedia.

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