Das Lyrikgespräch im Februar

In der ersten Lyriksendung des neuen Jahres spricht der Büchermarkt mit Maren Jäger und Christian Metz über zwei höchst unterschiedliche Bände: der Züricher Diogenes-Verlag veröffentlicht eine Werkschau der US-amerikanischen Schriftstellerin Mary Oliver (1935-2019), die noch zu Lebzeiten von ihr selbst zusammengestellt worden ist und Kurt Drawert legt bei C.H. Beck/München mit „Alles neigt sich zum Unverständlichen hin“ eine poetische, aber auch schrecklich schlechtgelaunte Suada vor.

„Wo ich wohne? Falls ich keine Adresse habe, so / wie viele Leute, könnte ich trotzdem sagen, dass ich in / derselben Stadt lebe wie die Lilien auf dem Feld“, schreibt Pulitzerpreisträgerin Mary Oliver 2009 in „Beweise“, einem von 219 Gedichten dieses Bandes, der in rückwärtiger Chronologie (quasi zum Ursprung zurückkehrend) das Werk dieser lyrischen Bestsellerautorin sammelt. „Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht“, steht im Matthäus-Evangelium und man kann annehmen, dass diese Bibelstelle (über die auch Kierkegaard in einer seiner berühmten Reden nachgedacht hat) essentiell war für die Weise, wie sich Olivers Lyrik der Welt hingeneigt hat – demütig, kontemplativ. 1963 erschien ihr Debüt „No Voyage, and Other Poems“, begeistert aufgenommen, darin Zeilen wie diese: „Die Tage / sind leichter jetzt und wir haben Zeit zum Nachdenken“.

Dieses Nachdenken, sich Versenken, Innehalten kennzeichnet ihr Werk, im tiefen Bewusstsein verfasst, dass jedes Individuum Teil eines größeren Ganzen ist – der Natur, ebenso ein Teil der Gemeinschaft aller Dichterinnen und Dichter, hier u.a.: William Blake, Bashō, „der süßeste Emerson“, William Wordsworth, Rachel Carson und Aldo Leopold. Als „elementar“ hat Oliver ihre Literatur selbst bezeichnet, doch naiv, wie man vorderhand annehmen könnte, sind ihre Zeilen keineswegs, sondern geschrieben im tiefen Bewusstsein, dass noch der friedlichste Moment bedroht ist, wie diese Franz Marc-Phantasie, wo der Schrecken von Verdun das nur scheinbare Idyll vergällt: „Ich betrete das Gemälde mit den vier blauen Pferden. / Ich bin nicht mal überrascht, dass ich das kann. / Eines der Pferde kommt auf mich zu. / Die blaue Nase beschnuppert mich leicht. Ich lege meinen Arm / über seine blaue Mähne, halte nicht fest, verbinde mich nur. / Es gestattet mir mein Vergnügen. / Franz Marc starb als junger Mann, ein Schrapnell im Kopf. / Ich würde eher sterben, als den blauen Pferden zu erklären versuchen, was Krieg bedeutet.“ Mary Oliver: „Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben“, übersetzt von Jürgen Brôcan, Vorwort von Doris Dörrie, Diogenes, 448 Seiten, 28 Euro

Alles neigt sich zum Unverständlichen hin

„Und auch ein Satz ist ein Rätsel. So also neigt sich, mit jeder / Stunde, die ich länger wach bin, alles zum Un-/verständlichen / hin. – Jetzt höre ich einfach, + für immer, mit allem auf.“ Der Band verbreitet schlechte Laune – demütig sind diese Verse ebenfalls nicht, eher von einem (durchaus ansteckenden) intellektuellem Hochmut beseelt. Drawert (*1957) ist einer der theorieinformiertesten Lyriker seiner Generation. Es lohnt, parallel seine Essays „Die große Abwesenheit“ bei Spector Books zu lesen: „Literatur entsteht aus einem Mangel heraus, aus der Erfahrung, die das Subjekt mit dem Mangel macht.“ So ist der Mangel auch das zentrale Wort dieses Langgedichts, das Weltvergeblichkeit in 1,5-Alexandriner komprimiert: „Das entspricht etwa einem durchschnittlichen Atembogen eines Durchschnittsmenschen im Durchschnittsalter“, erläutert Drawert in seiner „Leseanleitung“. Im Stil einer Suada zerdenkt das lyrische Ich (man erinnert G. Benn: „Ein armer Hirnhund. Schwer mit Gott behangen.“) die oft vergeblich erscheinenden Tage: „Die Zeit des Wissens ist vorbei. Schon ist es einerlei, was einer weiß. / Die Unterseite hat sich aufgerichtet. Die Oberseite nach / unten geschichtet. Verstand ist wie Sand in einer Eieruhr. Das / Reale flutet die Zeit. Das Banale wird zur Ewigkeit.“

Wo Mary Oliver das versenkende Einswerden mit der Natur zulässt, intellektualisiert Drawert noch den Grand Canyon „als Mythos des Ursprungs. Schichtungen der Geschichte, die / Rinden eines Baumstamms im Stein. Die Metaphysik kehrt / zurück, die Erhabenheit des Unaussprechlichen.“ Mit literarischen Mitteln entkommt Drawert der Sprachkrise, gelangt zu höherer Wahrheit, im steten Bewusstsein des Mangels, der uns als Menschen – nicht erst seit Arnold Gehlen – charakterisiert: „Die Folter der Verfügbarkeit, von allem und zu jeder Zeit. / Kein Wunsch, der unerfüllt sein kann, und kein Begehren, / das am Mangel sich erschafft. Schlaff wie ein Segel in wind- / stiller See, so liegt, für jeden zum Gebrauch bereit, der Sache / fremd, wie zugeschneit, das tote Ding und lässt sich ficken.“ Kurt Drawert: „Alles neigt sich zum Unverständlichen hin“, C.H. Beck, 176 Seiten, 24 Euro

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