Zu Lebzeiten erfolglos, bis in unsere Zeit hinein verkannt: In wenigen Tagen, am 21. September, jährt sich der Todestag Arthur Schopenhauers zum 155. Mal. Zeit, noch einmal zurück zu blicken. Der große Philosoph war ein berüchtigtes Genie. Dabei hatte er nur einen Rat: Schade niemandem!
„Kein Glück ohne Freiheit, keine Freiheit ohne Glück.“ Mit dieser sehr hanseatischen Einstellung flieht der 30-jährige Arthur Schopenhauer im Spätsommer 1818 aus Dresden. Sein Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ soll in Kürze ausgeliefert werden, und weil der Philosoph keine Lust hat, bis zum Durchbruch von Mutter, Schwester und von seinem Verleger Brockhaus genervt zu werden, packt er seine Sachen. Er will auf den Spuren des großen Goethe nach Italien reisen und in Venedig Lord Byron, den englischen Dichterstar der Stunde, treffen. Byron – Säufer, Spieler, Weiberheld – ahnt nichts von seinem zweifelhaften Glück. Schopenhauer ist ein Niemand, außer in seinem eigenen Kopf. „Er würde sich jedenfalls nicht mit einer Tasse Tee und etwas Gebäck begnügen; wenn er Byron gegenüberträte, dann auf Augenhöhe oder gar nicht.“ Mit dieser ihm sehr eigenen Selbstwahrnehmung wird Arthur Schopenhauer keinesfalls Freunde gewinnen. Das war im wirklichen Leben nicht anders als in dem klugen Roman „Die Welt ist im Kopf“, den Christoph Poschenrieder im Jahr 2010 dem Philosophen (1788-1860) anlässlich seines 150. Todestages gewidmet hat.
Schopenhauer war ein Unsympath. So machte er sich über die angeblich fehlerhaften Englischkenntnisse des Shakespeare-Übersetzers Ludwig Tieck lustig und gab den Frauenfeind: „Das niedrig gewachsene, schmalschultrige, breithüftige und kurzbeinige Geschlecht ‚das Schöne‘ nennen konnte nur der vom Geschlechtstrieb umnebelte männliche Intellekt.“ Minderwertigkeitskomplexe waren die Kehrseite dieser Hybris: In Venedig wird er ein Mädchen kennenlernen, daheim eine Bedienstete schwängern, die das Kind aber verliert. Als er in Venedig Byron vorbeireiten sieht, stellt sich der große Denker nur deshalb nicht vor, weil er Angst hat, ihm könnte die Geliebte ausgespannt werden. – „Schopenhauer hat gerade sein Lebenswerk vollendet, sein Buch steht kurz vor der Veröffentlichung“, so schilderte Christoph Poschenrieder 2010 die Ausgangssituation.
„Neuerdings kann ich das auch selbst nachvollziehen, was das heißt – alles ist möglich: Ruhm, Anerkennung, aber auch der Misserfolg, ein totaler Reinfall. Und Schopenhauer hat nur diese eine Chance. Mit seinem Hauptwerk ist er ein Frühvollendeter, ein anderes System kann er nicht schreiben.“ – Bis zum letzten Lebensjahrzehnt wird Schopenhauer auf Anerkennung warten. „Die Welt als Wille und Vorstellung“ liegt wie Blei in den Sortimentsbuchhandlungen. Niemand interessiert sich für sein Konzept der Welt als Traum, die lediglich aus Vorstellungen besteht, einer Welt, die den Blick auf das, was eigentlich das Leben aller Tiere, Pflanzen und Menschen bewegt, vorstellt. Was verstehen seine Zeitgenossen schon vom alles beseelenden, alles determinierenden Willen, dem, was Siegmund Freud viel später das „Es“ taufen wird.
Ohne das Erbe seines verstorbenen Vaters müsste der Denker wie einst Diogenes in der Tonne hausen. Dabei hat Schopenhauer „mit seiner Willensmetaphysik erstens unseren Begriff von Wirklichkeit erheblich erweitert; er hat zweitens den Boden für ein neues Menschenbild und ein neues Verhältnis zwischen Mensch, Tier und Umwelt bereitet; er hat drittens die Möglichkeit einer erfahrungs- und wissenschaftsorientierten Metaphysik im 20. Jahrhundert gelegt; und er hat viertens, lange vor der Wiederauferstehung der Philosophie der Lebenskunst, eine pragmatische Klugheitslehre in der Tradition der Moralistik vorgelegt“. So formuliert Biograf Robert Zimmer Schopenhauers Bedeutung für die Philosophie (siehe unten).
„Die Welt ist im Kopf“ beschreibt diese Verdienste auf ironisch-gebrochene Weise. Während einer Verfolgungsjagd versucht Schopenhauer, „das Geschehene in einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung zu bringen, vor allem, um daraus auf das Kommende zu schließen.“ An anderer Stelle debattieren während des Karnevals Schopenhauer und Byron, beide hinter Masken verborgen, sich also gegenseitig nicht erkennend, über Wahrheiten und Worte. Andere Aspekte von Schopenhauers Philosophie werden schon mal in einem Flirt versteckt. – Daraus ist ein eleganter, zwischen ergebenem Portrait, Burleske, Spionagesatire und Gelehrtendenkmal wechselnder Roman entstanden. „Die Welt ist im Kopf“ ist mehr als ein Reisebericht oder der pflichtschuldige Beitrag zum 150. Todestag. Dieses Buch ist ein begeistertes, aus langjähriger leidenschaft gereiftes Debüt eines tatsächlichen Fans. „Ich habe Schopenhauer studiert, vorwärts, rückwärts, jede Zeile gelesen – und natürlich vieles vergessen“, erzählt Poschenrieder im Interview. „Ich halte ihn, auf seine resignative Weise, für einen der großen Tröster; höchst passend für eine Welt von Konsum- und Geldgier, undogmatisch und mit eigentlich nur einem Rat an den Menschen: Schade niemandem! Außerdem ist er einer der großen Stilisten der deutschen Sprache. Ihn zu lesen macht Spaß.“
Das Beitragsbild zeigt Arthur Schopenhauer als jungen Mann, porträtiert 1815 von Ludwig Sigismund Ruhl / Christoph Poschenrieder: „Die Welt ist im Kopf“, Diogenes, 342 Seiten, 9,99 Euro
Zum Weiterlesen – Die Biographie
Schopenhauer erklärt sich nicht allein aus den Entwicklungen der deutschen Philosophie. Er muss „im Kontext der westlichen Geistesgeschichte gelesen werden.“ – Robert Zimmer ordnet in seiner Biographie „die Literatur und Philosophie Spaniens, Italiens, besonders aber Englands, Schottlands und Frankreichs“ den Gedanken Schopenhauers zu und verteidigt ihn gegenüber Nietzsches Rezeption, der Schopenhauer „als Vorreiter einer Geist- und Vernunftverachtung“ falsch gelesen haben soll. Auch wenn diese Studie nicht an die intellektuelle und emphatische Kraft der maßgeblichen Biographie von Rüdiger Safranski heranreicht (der Schopenhauer im Kontext des wilden, deutschen Idealismus jener Jahre betrachtet),
ist dieses wesentlich schmaler geratene Buch ein willkommener Einstieg für alle, die sich ihren Schopenhauer als bildungsbürgerlichen Hausgott ins Leben holen wollen. Wie verlasse ich die Traumwelt unserer Realität und gelange zur reinen Schau des Willens, der alle Lebewesen miteinander verbindet? Was bedeutet es eigentlich, Teil des großen Ganzen zu sein? Was lehren uns fernöstliche Weisheiten? Und vor allem: Wie führe ich ein glückliches Leben? Diese bereits in der antiken Philosophie zentrale Frage wird debattiert, mit dem Weg des hochgebildeten, mehrsprachigen Schopenhauer abgeglichen, konterkariert, mal mehr, mal weniger bildhaft, aber niemals unter Niveau, dabei verständlich, keinesfalls aufgesetzt. Eine solide Anleitung zur Erst-Meditation und Kontemplation. (Robert Zimmer: „Arthur Schopenhauer – Ein philosophischer Weltbürger“, dtv, 320 Seiten, 11,90 Euro)
Zum Weiterlesen – Der Klassiker
Rudolf Malters 1991 veröffentliche Monographie gilt in der jüngeren Wissenschaft als maßgebliches „Meisterwerk“ (Zeitschrift für philosophische Forschung). Nicht ganz einfach zu lesen, eher zu studieren sind Malters Untersuchungen über Schopenhauers Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Wie kann das menschliche Leid überwunden werden? Was bedeutet Erkennen im Licht von Schopenhauers Willenskonzept überhaupt? Das Buch beschäftigt sich unter anderem mit dem später auch Existentialisten wie Albert Camus („Der Fremde“) thematisierten Problem der einerseits von der Natur getriebenen, andererseits aber durch Askese zur Verneinung des Willens fähigen Menschen – wir sind determiniert und frei gleichermaßen. Welche Rolle spielt das Subjekt in diesem Befreiungsprozess? Was bedeuten Zeit, Raum, Kausalität bei Schopenhauer? In welchem Zusammenhand stehen Leib und Wille?
Wieso ist die Willensverneinung ein Freiheitsakt (zur Einführung sei der komplette „Zauberberg“ von Thomas Mann empfohlen, selbstverständlich, wie es Mann für seinen Roman und Schopenhauer für „Die Welt als Wille und Vorstellung“ forderte: zweimal!). Wie kann Erlösung durch eine andere Art des Erkennens stattfinden? Inwieweit ist Egoismus verantwortlich für unser Leid? Oder ganz grundlegend, zum Reinkommen ins Werk: Was ist Vorstellung? Wie verhalten sich Subjekt und Objekt in Schopenhauers „Satz vom Grunde“ zueinander? Wodurch sind alle Lebewesen miteinander verbunden? Danach sind wenige Fragen offen. Ein gewaltiges, absolut zu empfehlendes Oberseminar von bestechendem Intellekt. (Rudolf Malter: „Arthur Schopenhauer – Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens“, Frommann-Holzboog, 476 S., 96 Euro)
Gähn. „Man darf einen großen Mann verachten, wenn man stattdessen keinen mittelmäßigen bewundert.“ (Sinngemäß nach Nicolás Gómez Dávila.)
Ein toller Artikel! Schopenhauer gehört zu meinen Lieblingsphilosophen. Ich habe viel, sehr viel von ihm gelernt.
Schöne Grüsse aus Osnabrück