Muskelsaurer Spott, derbe Mumfluencer–Gags und die ekeligsten Fressattacken seit „La grande bouffe“ zeigt Verena Keßler in ihrem irrsinnig komischen „Gym“-Roman, der eine Couch–Potato in die Fitnesshölle stößt.
Die sportliche Betätigung ist der Literatur näher, als vermutet – man denke nur an den Torwart Albert Camus, der seine moralischen Grundsätze vom Spielfeld in die Philosophie brachte, oder an die siebenfache WTA-Gewinnerin und Schriftstellerin Andrea Petković, oder an den roughen Fitness-Pumper und Bookfluencer Soheyl Khonsari, der auf Instagram sinnigerweise als „der Bücherschrank“ firmiert und bunt gemischt über Weltliteratur, maskuline Sachbücher und Sebastian Fitzeks Blut-Thriller berichtet. Die Wahl-Leipzigerin Verena Keßler wiederum stellt in ihrer Sport-Groteske „Gym“ quirlige Fitness-Influencerinnen, muskulöse Anabolika-Junkies und den bärig-tumben Studiobesitzer Ferhad vor. Ihm sitzt die Ich-Erzählerin zu Beginn des Buchs gegenüber, eine gefallene Business-Managerin. Aufs Geratewohl hat sie sich – schnell aus der Puste – in den dritten Stock von Ferhads „Mega Gym“ zum Bewerbungsgespräch begeben.
„Fitness, sagte ich ernst, sei schon immer meine Leidenschaft gewesen. Mein Erdnussflipbauch drückte gegen den Hosenbund, mein Puls war immer noch erhöht – dritter Stock, Treppen. Ferhat nickte, drehte einen Kugelschreiber zwischen seinen Fingern, sagte schließlich: gut, und dann noch mal: gut.“
Doch Ferhad wünscht sich keine mopsige Couch-Potato. Er möchte seiner Bewerberin keinesfalls zu nahe treten, doch er gesteht, ihm sei wichtig, dass man diesen Ort verkörpere, dass man Fitness, Wellness und Gesundheit ausstrahle und diesen Lifestyle lebe – ob sie wisse, wie er es meinte? „Ich ahnte, wie er meinte. Meine Kopfhaut juckte. Zwischen meinen Brüsten sammelte sich Schweiß. Auf einmal hatte ich das Gefühl, nackt zu sein, nur Haut, keine Taschen, keine Ärmel, und da rutschte es mir raus. ‚Ich habe gerade erst entbunden.’“
Bunny-Booster für die Mukkis
Das ist eine nichtmal schamlose, sondern vielmehr aus der Körperscham geborene Notlüge. Die Mittdreißigerin hat kein Baby. Sie war nie alleinerziehend. Ihr Ex-Freund hat sie keinesfalls sitzenlassen. Sie ist abgehauen, hat sich im Job unmöglich gemacht, ihr Leben ganz allein gegen die Wand gefahren. Doch der gutmütige Studiobesitzer Ferhad glaubt ihrer Geschichte, zeigt sich verständnisvoll und tief berührt. Denn eine Sache, sagt er, müsste sie über ihn wissen: „Ich bin Feminist.“
So bekommt die Frau ihren Job als Tresenkraft und mixt Proteinshakes die als „Muscle-Hustle“ oder „Bunny-Booster“ angeboten werden. Sie stellt Iso-Drinks kalt, schneidet Obst und Gemüse klein, kümmert sich um den Geschirrspüler und bedient Studiokunden, die Gewichte stemmen, während im Hintergrund die Spotify-Playlist „Great Female Artists“ läuft. Klingt nach einem „Easy Job“. Doch schnell merkt die Erzählerin, dass es nicht so leicht ist, die neue Tätigkeit, ihre erfundene Mutterschaft und den von Ferhat eigens für sie erstellten Trainingsplan angemessen auszufüllen. Zudem stellt die erste Kollegin unangenehme Fragen – und möchte Babyfotos sehen.
„Die Fotos, die ich zeigte, klaute ich einer ehemaligen Kollegin. Sie postete ihr Baby mehrmals täglich auf Instagram und bekam dafür 7 – 9 Likes von ihren 43 Followern. Ihr Sohn war ein durchschnittlich süßes Kind, nichts Besonderes, ich hätte gern ein besseres gehabt, aber wichtiger war, dass ich laufend an neues Material kam.“
Heimtückisch und schmerzhaft
Studiobesitzer Ferhat bietet überflüssigerweise sein Büro als Safe Space an, damit die neue Mitarbeiterin in Ruhe ihre Babymilch abpumpen kann, mit einem Gerät, dass sie aus der Apotheke besorgen muss, um dann in diesem Büro zu sitzen, die Sauger angelegt wie eine Method-Actress aus den 1970er Jahren. Diese Maskerade wächst sich derart erschöpfend aus, dass die Frau beschließt, ihre brachliegende Fitness-Begeisterung anzufachen, um weniger Fremdkörper zu sein in dieser Welt der Tights und Shorts, der Bralettes, Tank-Tops und Crops. Ihr zuvor im Business-Job ausgelebter Ehrgeiz erwacht. Ein erbarmungswürdiges Unglück nimmt seinen Lauf.
„Immer öfter wachte ich von Wadenkrämpfen auf, sie packten mich heimtückisch, plötzlich, und waren so schmerzhaft, dass ich schreien wollte. Oft konnte ich danach stundenlang nicht mehr in den Schlaf finden, aus Angst, erneut attackiert zu werden.“
Die Magnesiumtabletten, die von Kollegin Swetlana gegen die Krämpfe empfohlen werden, sind der Einstieg in eine Welt der Nahrungsergänzungsmittel. Diese Reise führt auf die schiefe Steroidbahn. Die Heldin trainiert manisch, martert sich mit Hip Thrusts, Split Squats, Kickbacks und Crunches. Man muss diese Übungen keinesfalls kennen. Der Wahnsinn dieser Selbstoptimierung findet ausreichend Anschauung im muskelfördernden Fressverhalten der bald wie irr erscheinenden Hochstaplerin, die Hackfleisch und Harzer Rollen, Spritzen und Pillen in ihrem Umkleidespind hortet.
„Mittags ging ich an die Fischtheke. Ließ mir einen ganzen Lachs geben, in mundgerechte Happen geschnitten. ‚Ach’, sagte die Verkäuferin einmal, ‚Sushi selber machen ist was Tolles!’ Ich korrigierte sie nicht. Aß die glänzend rosa Stücke stehend in der Gasse hinter dem Gym. Schlang dabei so sehr, dass mir ein dünnes Rinnsal Fischsaft aus den Mundwinkeln über das Kinn und weiter meinen Hals entlanglief.“
Comedy statt Pumping Iron
Wer dachte, der Proteinfurz eines Bankdrückers sei das denkbar Ekeligste, was der Fitnesswahn unserer Tage hervorbringt, der wird in Verena Keßlers „Gym“ mit noch gewaltigeren Abscheulichkeiten konfrontiert; in einem Ton, der an Workplace-Comedys wie der deutschen Mockumentary-Fernsehserie „Die Discounter“ erinnert oder an die Netflix-Cartoons von „Human Ressources“. Gegen die längst überkommenen Sport-Aufsteigerdramen wie „Rocky“, „Pumping Iron“ oder „Bloodsport“ setzt dieses wilde Trainingstagebuch hyperbolische Situationskomik, muskelsaure Satire und Mumfluencer-Gags, die sich selbst der Instagram-Bücherschrank verkneifen würde.
Verena Keßler: „Gym“, Hanser Berlin, Berlin, 192 Seiten, 23 Euro