Linkradar: Mein heimliches Auge

Eine traurige Nachricht zu Beginn: Gestern starb Champagner-Großkritiker Fritz J. Raddatz im Alter von 83 Jahren. Selbst Despektierliches über den einstigen stellvertretenden Rowohlt-Verlagsleiters und späteren ZEIT-Feuilletonchefs klang in meine Ohren wie höchste Adelung. So auch in diesem „Abrechnung“ betitetel Text von Kollege Hellmuth Karasek, der vor fünf Jahren schrieb: „Fritz J. Raddatz habe ich vor vielen Jahrzehnten zuerst durch zwei Geschichten kennengelernt, die mir Rudolf Augstein erzählte, beide mit einem „Stell dir vor“ eingeleitet. Die erste Geschichte: „Stell dir vor, Fritz J. Raddatz hat stets einen silbernen Sektquirl in der Tasche, mit dem er die Perlen aus dem Sekt rührt.“ Und die zweite Geschichte: „Stell dir vor, Raddatz hat mir vom Unfalltod seiner engsten Freundin erzählt. Dabei handelte es sich in Wahrheit um einen Freund.“ Die Geschichte vom Sektquirl ist insofern kulturgeschichtlich interessant, da man damals den Champagner aus flachen Schalen trank, man wollte also die Kohlensäure, die ihn auszeichnet, eher loswerden. Sie ist eine Geschichte über den Snob und Dandy Raddatz, der in seinem Tagebuch endlos die Nase darüber rümpft, wenn die Gastgeber keine Messerbänkchen auf dem Tisch haben – er möchte Fisch nie ohne Messerbänkchen essen.“ (Copyright des Beitragsbildes: Copyright: Das blaue Sofa / Club Bertelsmann.)

auge_0720 Shades of Black: Zu den meistdurchgeblätterten Büchern jeder Buchmesse – die „Mein heimliches Auge“-Erotikanthologien des konkursbuchverlags von Claudia Gehrke. Gemeinsam mit Autorin Ines Witka, deren Buch „Dirty Writing“ jetzt erscheint, veranstaltet konkursbuch  einen erotischen Schreibwettbewerb. Die besten Texte werden prämiert und in „Mein heimliches Auge – Das Jahrbuch der Erotik Nummer 30“ (Herbst 2015) veröffentlicht, rechtezeitig zur Messe, wo Aufmerksamkeit gewiss ist (nur sprechen nicht alle offen darüber). Zweiter Preis ist übrigens ein Beckenbodentrainingsset von Frau Blum. Einsendeschluss ist der 15.7.2015. Zwei Tage später gibt es eine Fußbadlesung.

metcatfish-3Lukrative Nebeneinkünfte: Ob Kim Frank (Echt) mit seinem zweifelhaften Debüt „27“, Sven Regener (Element of Crime) mit „Herr Lehmann“, „Ein Brief an September Novak“ von Markus Berges (Erdmöbel) oder das missglückte „Otis“ von Jochen Distelmeyer (Blumfeld) – die Verlage casten seit Jahren (Indie-) Musiker, die Romane schreiben können. Darum ging es hier in 1LIVE Plan B (mit Moderator Ingo Schmoll), ergänzend zum gerade erschienenen „Buch der Woche“, der neue Roman von Rolling-Stones-Kollege Maik Brüggemeyer, der mit „Catfish“ ein tolles Spiel um Authentizität und Mythosmacht bei Bob Dylan entworfen hat (hier zu hören), erschienen im Berliner Lieblingsverlag Metrolit.

Schwarz_scheiden_lassenEin klassisches Eigentor? Wenige Freunde haben sich Manuela Thieme und Chris Deutschländer vom eher unbekannten Seitenstraßen-Verlag gemacht (rechts ein Coverausschnitt aus dem neuen Programm). In diesem Blogeintrag schreiben sie: „Als kleiner Verlag können wir nach über zehn Jahren Vertragspraxis mit Amazon sagen: Uns ergeht es da nicht schlechter als im übrigen Buchhandel. Ob bei Amazon oder den großen Zwischenhändlern des stationären Buchhandels wie KNV, Libri und Umbreit – immer kassieren sie 50 Prozent des Buchpreises.“ Die F.A.Z. schreibt, dass nun etliche kleine Buchhandlungen zum Boykott des Verlages aufgerufen haben.

9783455405231In eigener Sache: Ebenfalls in den vergangenen Tagen auf 1LIVE gab es von mir eine kurze Besprechung des flirrenden Taormina-Romans „Der Fremde im Palazzo d’Oro“ von Paul Theoroux (hier) und eine des wahnwitzigen Terror-Pop-Romans „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ von Frank Witzel (hier). Zudem neu im Blog sind dieses ellenlange Interview mit Theaterstar René Pollesch, ein Text über „The War of the Worlds“ (hier auch im BILDblog erwähnt). Zuletzt wünscht LesenMitLinks gute Besserung an Kollegin Karla Paul, die ihre beliebte Buchkolumne ausfallen lassen musste und den Staffelstab hier an mich übergab.

Konsuminventur

UnknownIst doch alles das Gleiche: Schlecky Silberstein machte sich in dieser Woche über den neuen Werbespot des Discounters LIDL lustig. “Ein Paukenschlag im Apple-Look”, so feiert das Fachforum Horizont den neuen Image-Spot von LIDL, „der das Unternehmen raus aus der Billigheimer-Ecke führen soll. Der Look, die Haltung, die Protagonisten, alles ist so premium, dass wir verschämt unsere abgebissenen Fingernägel verdecken. Und was hat der Spaß gekostet?“ Schlecky Silberstein vermutet: nichts. Dieser Mist kann nur aus einem Spot-Generator kommen, so austauschbar ist er. Die Werbeagentur GREYberlin geht noch weiter und legt diesen grandiosen Werbefilm-Kombinierer vor.

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1 Kommentar

  1. […] war nicht alles schlecht: Vergangene Woche ging es hier im Linkradar um den LIDL-Spot. Noch weniger nachgedacht haben die Leute von Coca-Cola, die dieses Filmchen zum […]

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