Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich Roger Willemsens „Der Knacks“ ein zweites Mal lesen würde, als ich im Frühjahr 2009 für 1LIVE das Lesefest lit.COLOGNE on und off Air begleitete. Für meine Besprechung von Claire Marins französischem Bestseller „Brüche“ (hier im Blog) habe ich es in diesem Jahr 2025 aber getan. So ist dieser Text eine Aktualisierung des vorherigen, in memoriam Roger Willemsen, der vor zehn Jahren gestorben ist, und der einer der freundlichsten Menschen war, denen ich im „Betrieb“ begegnen durfte. Als ich ihn damals im Kölner Schokoladenmuseum um ein Interview bat, zeigte Willemsen auf meinen 1LIVE-Windschutz und sagte: „Aber selbstverständlich, lieber Kollege.“
„Die Sprache für den Knacks ist das Fragment. Fragmente sprechen nicht vom Ganzen, Intakten, ihre Vollendung liegt in ihrer Gebrochenheit“, schreibt Roger Willemsen in seinem ebenfalls fragmentarischen Buch über den Knacks, der zu jedem Leben unweigerlich gehört. „There is a crack, a crack in everything / That’s how the light gets in“ sang Leonard Cohen. “In a real dark night of the soul it is always three o’clock in the morning”, bekannte F. Scott Fitzgerald 1936 in seinem autobiographischen “The crack-up”-Essay, so zeigend, dass selbst Bestsellerautoren wie er keineswegs gefeit sind vor Zusammenbrüchen, Niedergeschlagenheit, Depressionen.
Was also ist der Knacks, der sich vom psychoanalytisch ausdeutbaren Trauma unterscheidet, also freudianisch eher schwer zu fassen ist? „Es ist ein Kaputtgehen, ein Untauglichwerden, ein Dahinscheiden, ein Jonglieren mit den Versäumnissen“, schreibt Willemsen, „man geht von einem Zustand, in dem man fragte, was man will, in einen über, in dem man fragt, was man kann: Immer an den Grenzen der Tauglichkeit entlang, auf immer kleiner werdenden Schollen der Souveränität, durch ein Terrain voller Hohlräume. Nur die Dreisten und die Naiven sind jetzt noch glaubwürdig stark, die anderen verständigen sich über den Mangel. Sie kommen nicht mehr zusammen, weil sie sich stimulieren, sondern weil sie den Mangel ausgleichen, von der Erwartung getrieben, sich wechselseitig zu vervollständigen.“
Vater unser
So fängt die Erinnerung bei Willemsen an: Als der Biologielehrer wenige Tage nach dem frühen Krebstod von Willemsens Vater ein Skelett in den Unterrichtsraum schob, krähte jemand aus der letzten Reihe: „Schau mal, Roger, dein Vater kommt zur Elternsprechstunde.“ Der Mitschüler entschuldigte sich wenig später, unter Tränen, den Tränen eines Unwissenden. Denn er konnte damals nicht wissen, dass hinter seinem pietätlosen Scherz auch Todesangst steckte, die Angst vor dem eigenen Ende. Willemsen erinnert sich: „In der Garderobe stand meine Mutter und sagte: ‚Der Vater ist tot.’ Es klang wie der Vater aller. Vater unser. Dieser Moment hatte ein langes Leben.“ Der eine hat den Knacks bereits erfahren, der andere macht einen schlechten Scherz, um sich zu immunisieren gegen den drohenden Knacks in wiederum seinem Leben.
Ausgehend von diesem privaten Urknacks, dem Tod seines Vaters, hat Willemsen einen gebrochenen Text geschrieben, mit Übergängen, die absichtlich schief verfugt scheinen. In ihm folgen, Roland Barthes’ abgeschaut, Aphorismen auf längere Szenen, kulturwissenschaftliche Essays auf kleinere Erinnerungen, das Thema umkreisend von Sophokles zu Francisco de Goya („Auch die Zeit ist ein Maler“) zu Amy Winehouse (die damals noch lebte, erst 2011 viel zu früh sterben sollte).
Zettelkasten des Einbruchs
„Brüche definieren die Biographie. Ihr Leitprinzip geht nicht in den Ausnahme-Ereignissen auf, sondern im schleichenden Prozess ihrer Veränderungen, im Angriff durch die Zeit“, schreibt Willemsen, „ihre Form erhält sie im Ablassen, Ermüden, Entsagen. Verlegen vor der indifferent dahinziehenden Dynamik, die die Lebensgeschichte treibt, gibt man den Veränderungen Namen: Ereignis, Schock, Triumpf, Leistung, Erschütterung, Euphorie, Zufall, Schicksal, Lohn, endlich Entscheidung.“
Den Knacks erkennt Willemsen auch ihn in Gesten einer Pornodarstellerin („Der Knacks der Pornographie wird frei in der Ungerührtheit der Frauen“), in Alltagstragödien („In Frankfurt saß einmal ein Bettler in der Bahnhofsgegend mit einem Schild: Finde keine Arbeit wegen meinem Gesicht.“) in William Shakespeares innerlich zerrissenem Hamlet, in der „Suspense-Linie“ des Leistungssports. Die Schönheit des trainierten Körpers ist stets eine bedrohte: „durch Bruch, Schlag, Cut, Zerrung, Dehnung, Abriss, Pferdekuss, Gehirntrauma oder offene Wunde.“
Nah am Tod geschrieben
„Der Knacks“ war dereinst ein Publikumserfolg, wie alle Bücher Roger Willemsens, da es ihm gelang, ein komplexeres Thema ans Bildungsbürgertum zu vermitteln, das sich zu jener Zeit ebenso erfreute an Angeboten wie der „Spacenight“ im BR-Fernsehen, an Panorama-Vorführungen skandinavischer Landschaften oder den Oberhausener Kurzfilmtagen. So war der sich gleichsam an diese Zielgruppe gerichtete Schauspielhaus-Abend von Bildungsmelodramatik gezeichnet, evoziert auch durch die begleitenden Stücke des Jazzpianisten Frank Chastenier (zwischen Lesestellen und Musik durfte nicht applaudiert werden).
Man ging hinaus, auch über diese feuilletonistischen Zeilen sinnierend: „Die bindende gesellschaftliche Übereinkunft liegt aber vielleicht weniger in der kollektiven Feier des Lebens als in der massenhaften Abwehr des Sterbens. In den Nachrufen schreiben sie manchmal: ‚… freiwillig aus dem Leben gegangen.’ Als müssten alle anderen gezwungen werden!“
Roger Willemsen: „Der Knacks“, Fischer Verlag, 304 Seiten, 18,90 Euro / hier eine Überschreibung des Textes von 2009

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