In einer dystopischen Welt ohne Musik gründen drei junge Menschen eine Konzept-Band und proben den Aufstand gegen ein ominöses Unterhaltungsministerium. Mit ihrem Stereolabor wird mal wieder ein Versteck gegen die Unkultur errichtet – wie bereits im Vorgänger-Roman „Spitzweg“, der einige überraschende Parallelen zum neuen „Punk“-Stück Eckhart Nickels aufweist.
No future ist jetzt! Die Spatzen pfeifen’s von den Dächern, die festgeklebte „Letzte Generation“ schreit’s vom Asphalt, die politischen Mahner und Warner referieren’s in den Parlamenten. Als dennoch hoffnungsfrohen Einspruch bricht Eckhart Nickels Roman „Punk“ in unsere desillusioniert erscheinende Gegenwart – ein halbes Jahrhundert, nachdem die „Ramones“ im New Yorker Stadtteil Queens gegründet wurden. – „Blitzkrieg Bop“ war die Geburtsstunde der bis in die achtziger Jahre hinein prägenden Punk-Bewegung mit ihrem etwas später von den „Sex Pistols“ ausgerufenem „No future“-Slogan.
Nickels punkige Geschichte spielt in naher Zukunft. Wie aus dem Nichts erscheint eine andere, überaus unheimliche akustische Erscheinung. Es ist keine neue Musikrichtung, sondern eine Art allpräsentes Rauschen, das euphemistisch als „weißer Lärm“ bezeichnet wird. Dieser weiße Lärm beschallt mit seinem seltsamen Klang Städte, Wälder, Dörfer, Strandpromenaden, nicht dröhnend, sondern trotz seiner Unheimlichkeit auf eine verborgene Weise: beruhigend. „Alles, woraus Der weiße Lärm besteht, ist verwandelte Natur, organischer Klang, den die Erde an anderer Stelle produziert hat und der mithilfe eines perfektionierten Transsubstantiationsverfahrens zur idealen Akustik wird, die überall zur Besänftigung unseres Gemüts und der Erquickung des Geistes dient.“
Wall of Sound
Die Physik kennt das „weiße Rauschen“, das zur Lärmbekämpfung eingesetzt wird, störende Akustik überlagernd, nachgerade dimmend, angenehmer gestaltend. Im „Punk“-Roman verhindert der „weiße Lärm“ jegliche Wahrnehmung von Musik. Man muss sich das Ganze vorstellen wie Antischall, eine fein austarierte Geräuschunterdrückung. Dieses weiße Rauschen wird zunächst als Protest einer nicht näher genannten Gruppierung gespielt. Es gibt zahlreiche Bekennerschreiben. Keines erscheint glaubwürdig. Die verunsicherte Gesellschaft vermutet wahlweise eine Öko-Kunstaktion oder einen terroristischen Anschlag, der die westliche Ordnung erodieren soll. Aktivisten erheben Forderungen: vom Tempolimit über Abrüstung, EU-Ausstieg, Abschiebehaft für alle straffälligen Immigranten. Würden die Forderungen ignoriert, bleibe der weiße Lärm in der Atmosphäre.
„Die Öffentlichkeit war tierisch besorgt, weil es sich in den Worten unseres Innenministers ‚eindeutig um einen Anschlag auf die kritische Infrastruktur des Landes’ handelte. Kurz darauf gab es Berichte im Fernsehen über eine, so die Augen-, oder besser gesagt Ohrenzeugen, völlig aus dem Nichts auftauchende’ Klangmauer. Was wir als Jugendliche bei Open Air Festivals am coolsten fanden, diesen Super-Spezialeffekt, den alle Wall of Sound nannten, wofür die Bands ganze Gebirge aus Boxen auffahren mussten, war mitten in unserer Stadt, wo sich die Klangmauer um die Mittagszeit herum aufbaute, ein zutiefst verstörender Effekt.“
Irgendwann entwirft die Politik einen Plan, keineswegs, um den Lärm, um dieses Rauschen zu bekämpfen, sondern um ihn vielmehr zu nutzen. Die gesellschaftliche Herausforderung mündet in einem Great Reset akustischer Provenienz. Es ist der Versuch, „die zweifellos existierenden positiven Effekte auf die Gesellschaft politisch mitzunehmen, indem man sie aktiv in das Regierungsprogramm einbezog und als Verdienst der entsprechenden Minister ausgab.“
Wokes Phantasialand
Was für die einen wie biologische Kriegsführung wirkt, ist für die anderen ein willkommener Anlass zur Neujustierung aller Lebensart. Vor dieser Zeit – also in unserer Gegenwart – waren weiße, seit der iPhone-Markteinführung im Jahr 2007 allgegenwärtige Ohrstöpsel notwendig, um sich mittels Musik abzuschotten von der Realität, vom nervtötenden Gerede seiner Mitmenschen. Nun unterdrückt das weiße Rauschen auch die Musik, zugleich: negative Reden, verletzende Statements, nervenaufreibende Interventionen: Ein wokes Phantasialand. Die schicken weißen Kopfhörer früherer Zeiten verlieren ihren Modeaccessoire-Status, sie werden uncool, „nicht nur, weil nichts mehr in ihnen ankam, was sie genau betrachtet relativ nutzlos machte. Sondern auch, weil wir alles um uns herum viel klarer und deutlicher ohne sie wahrnehmen konnten.“
Das hier erzählende, ein offensichtliches neues „Wir“ subsummierende Ich, die Erzählerin dieses Romans, ist die junge Um-die-Zwanzigjährige Karen. Sie und ihre Schwester Kirsten sind eineiiger Zwillinge. „Obwohl ich ohne jeden Zweifel angenommen hatte, dass ich von uns beiden die verletzlichere war, die kompliziertere und sich selbst immer nur im Weg stehende Schattenschwester, die beim Überleben dringend auf die Hilfe der Lichtgestalt neben ihr angewiesen war, musste ich am Ende der meisten Partys sie nach Hause bringen, wenn sie es wieder übertrieben hatte.“
Idiosynkratische Neo-Hipster
Kirsten und Karen sind noch Schülerinnen, als der weiße Lärm einsetzt, sichtlich fasziniert von diesem widerspenstigen Effekt. Er hält sich über die Dauer mehrerer Jahre, begleitet die Spätphase ihrer Adoleszenz. Nach dem Abitur bewerben sich Kirsten und Karen um ein WG-Zimmer bei den kunstinteressierten Brüdern Ezra und Lambert, die ihren ganz eigenen Umgang mit dieser Akustikerscheinung gefunden haben. Die beiden idiosynkratischen Neo-Hipster betätigen sich als private Archivisten. Lambert bekennt gegenüber der ebenso verwunderten wie faszinierten Erzählerin:
„Ich habe ja, als es eng wurde mit der Musik, unmittelbar angefangen, ein umfangreiches Akustikarchiv mit der ganzen Vielfalt natürlicher und künstlicher Geräusche aufzubauen, um so eine Parallelwelt eigener Interventionen zu gestalten. Ezra und ich dachten gleich: Moment mal, das können wir doch auch, und vielleicht sogar noch besser. Wir wollten also mit unserem eigenen Gerummse am Start sein, wenn der WEISSE LÄRM zu uns kommt, um im wörtlichen Sinn als Radaubrüder Paroli zu bieten.“
Die Brüder leben nicht nur in einem Soundarchiv, sondern auch gedanklich in einer konservierten Version jenes popkulturellen Verweisraums, der spätestens mit Einstellung der Spex-Printausgabe geschlossen und seitdem nicht mehr geöffnet wurde. Sie sind intellektuelle Popkulturfreaks alter Schule, wie jene Vorläufer, die spätestens ab den 1970er Jahren aus den Plattenläden, Clubs und Proberäumen emporgestiegen sind über Fanzines und Musikredaktionen bis ins später gegründete Berliner Feuilleton, das seine Hypephase in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erlebte. Eine untergegangene Erscheinung, an den Rand gedrängt, ersetzt von politischen Haltungspropheten. Pop ist schon lange keine Jugendkultur mehr.
Ein Trio wie Ezra, Lambert und Karen ist heutzutage eine intellektuelle Kuriosität. „Karen, hallo, höre ich die Stimme meiner Schwester aus dem Off nöhlen, typisch unnützes Distinktionswissen, mit Typen, die allen Ernstes auf so was achten, willst Du gar nichts zu tun haben! Anders als sonst kontere ich ziemlich schnell. Kirsten, bitte, erstens hast Du keine Ahnung und zweitens wer weiß, wozu mir das noch nützen kann.“
500 Days of Summer
Karen ist die Stimme unserer Gegenwart, Kirsten jene der Vergangenheit. Zwar lehnen sich auch zeitgenössische TikTok-Künstler an Bands früherer Zeiten an, es gäbe also viel zu diskutieren – doch das Herausarbeiten und Benennen dieser Samples und Snippets, dieses wohlinformierte Pop-Philosophieren ist 2024 schlichtweg „démodé“. Allein in der hier vorgestellten Nerd-WG wird der gekonnte Umgang mit Film-, Musik-und Literatur-Zitaten von jeder Bewerberin erwartet. Wer also gewisse Sätze nicht einordnen oder zu Ende führen kann, verliert die Chance auf das inserierte, überaus geschmackvoll möblierte Altbauzimmer. Karen besteht den Test und sticht damit ihre geliebte Schwester aus, indem sie geistesgegenwärtig einen Film-Dialog über die britische Rockband „The Smiths“ passend dem Indie-Blockbuster „500 Days of Summer“ zuordnet.
„Ezra beginnt zu lachen. ‚Jetzt nicht wahr, oder? Du bist die erste, die mit unserer kleinen Obsession an der Wand hier was anfangen kann.’ Lambert fällt ihm fast ins Wort. ‚Hier schau mal, die seltenste Maxisingle von allen: William, it was really nothing mit Morrissey und seinem überirdischen Glas Milch in der Hand.’“ – In einer Zeit ohne Musik ist fachhistorisches Wissen über Indie-Blockbuster, Morrissey-Lyrics und ihr Verhältnis zum obsessiven Leben verdächtig. In der Zukunft dieses Romans gilt dergleichen sogar als staatsgefährdend – zu bequem hat sich die Administration in den Annehmlichkeiten dieser neu entstandenen Situation eingerichtet.
Nach den anfänglichen Vereinnahmungen durch einzelne Politiker wurde ein ominöses „Ministerium für Unterhaltung“ gegründet, ein „Ministry of Sound“ sozusagen, das allerdings wenig zu tun hat mit dem offenen, die elektronische Musik einst prägenden Londoner Nachtclub, der in den 1990er Jahren die britische House-Musik großgemacht hat. Menschen, die sich in Nickels „Punk“ trotz der rauschenden Stille mit Popbands beschäftigen, es möglicherweise sogar wagen, selbst die Stimme zu erheben, wirken verdächtig wie jene Dissidenten aus Ray Bradbury’s „Fahrenheit 451“-Roman, die sich in die Wälder zurückgezogen haben und den Inhalt aller verbrannten Bücher trotzig memorieren.
Musik wird, was sie lange war: widerspenstig. “Der vielleicht überraschendste Nebeneffekt des Weißen Lärms bestand darin, dass durch die übertönten negativen Affekte bald auch sämtliche Glücksgefühle wie Begeisterung und Euphorie verschwanden, aber nicht durch Interventionen, sondern ganz beiläufig und en passant. Als hätte jemand einen Regler heruntergedreht und damit der allgemeinen Gefühlsskala des Menschen ihre Extreme entzogen und die Enden gekappt, sodass, im Geräuschjargon gesprochen, nur noch Mitteltöne in einem begrenzten Spektrum überhaupt übrig geblieben waren.“
Renoir trifft Beuys
In dieser gefühlstauben Welt haben die Brüder ihre Leidenschaft bewahrt und eine Art Faradayschen Käfig gegen den „weißen Lärm“ eingerichtet. Mithilfe ihres selbstgebauten, sogenannten „Stereolabors“ können sie Instrumenten neues Leben einhauchen, alte Mixtapes abspielen, die Boxen laut aufdrehen, während der ständige Bewohner Pierre Auguste – ein weißes, manchmal auch als Hase bezeichnetes Kaninchen – durch dieses Museum kindlicher Unschuld hoppelt. Eine flauschig-naive Referenz an Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“.
„Lieblingsgericht: Grüner Salat auf Esspapier. Wobei wir immer dachten, das Esspapier ist der Hit, aber schau mal: Er sieht das anders und betätigt sich damit eher als Landschaftsgärtner.“ Ezra und Lambert denken in ihrer eigenen Referenzwelt bei der Lieblingsspeise dieses Hasens oder Kaninchens unweigerlich an den „Salad Days“-Song der Young Marble Giants.
Man könnte auch William Shakespeare referenzieren, der den Begriff „Salattage“ als Zeichen unbeschwerter Jugend fürs „Antonius und Cleopatra“-Schauspiel ersonnen hat. – In ihrer kabuffartigen Do-it-yourself-Enklave, in diesem Stereolabor haben Ezra und Lambert eine etwas durchgeknallt-nerdige Underground-Band gegründet, der allerdings die letzte Note fehlt, eigentlich fehlt ihr überhaupt eine Note, die nun die neue, erfolgreich gecastete Mitbewohnerin Karen singen soll. Sie fängt an zu stottern und gibt an sie könne lediglich „ganz ordentlich Klavier spielen“. Doch Lambert hebt beschwichtigend die Hände: „Darüber mach Dir mal keine Sorgen. Bei uns sieht’s nicht halb so gut aus, wir können gar nichts. Das einzige, was wir deswegen bis jetzt haben, ist der Name unserer Band: PUNK.“
Within You, Without You
Was nun mit dieser Band passiert und vor welchen regulatorischen Herausforderungen „PUNK“ steht, soll an dieser Stelle nicht verraten werden, nur so viel: Eine Festung gegen die Empfindungslosigkeit gab es bereits in Nickels vorherigem „Spitzweg“-Roman, damals nicht als „Stereolab“, sondern als „Kunstversteck“ bezeichnet. Auch sein mehrfach ausgezeichnetes „Hysteria“-Debüt erzählte von einem Schutzraum gegen die entfremdete, von unsinnlichen Fakes kontaminierten Simulationswelt. Das Misstrauen begann bei „Hysteria“ mit dem Biss in eine seltsam fade Himbeere, im folgenden „Spitzweg“-Roman führte die Beschämung durch eine Kunstlehrerin zur Einrichtung besagten „Kunstverstecks“, dem Rückzugsraum der damals vorgestellten Jugendlichen.
Ob die Kirsten des früheren Romans gleichzeitig jene ist, die nun als Schwester der aktuellen Erzählerin Karen vorgestellt wird: unwahrscheinlich, aber literarisch irgendwie möglich. Das neue Buch eröffnet ebenfalls mit einer Beschämung, mit einem peinlichen Klaviervorspiel. Keine Kunst-, sondern die Klavierlehrerin Madame Framboise tritt hier als Advocatus Diaboli auf. Mit dieser französischen Anspielung auf die Himbeere wird sofort klar, dass „Punk“ auch als intra- und extratextuelles Literaturspiel gelesen werden kann. Man folgt lustvoll allen popkulturellen und auf frühere Bücher anspielenden Verweisen, sinniert über das Spannungsverhältnis zwischen dem psychedelischen The-Rolling-Stones-Song „Gomper“ und dem gleichsam psychedelischen „Within You, Without You“-Track der Beatles und verliert sich im quietschig bunten Kleinklein der mehrfachbedeutsamen Überfülle.
„Wusstet ihr, dass das Gehirn, wenn wir Musik hören, an der bereits fertiggestellten Komposition mitarbeitet, weil es immer Bruchteile einer Sekunde voraus denkt und die gerade im Augenblick gehörte Melodie in Richtung Zukunft weiterspinnt? Da wird man irre, wenn man sich versucht, das vorzustellen. Das HIRN rast also fast wie im Märchen der Igel dem Hasen, also der Musik davon. Ich ziehe meinen Hut vor dieser Meisterleistung unseres Kopfes, die keine A.I. je einholen wird.“
Likeheischende Empörungen
Diese Überfülle dient einer dahinterliegenden, Komplexität aufbauenden Poetologie, die sich gegen Vereinfachungen, übervorsichtige Sprach- und „Art“-Regeln, gegen algorithmisierte, für die Social-Media-Ausspielung optimierte Songs, kurzum: gegen den Aderlass unserer humanistischen Erfolgsgeschichte stellt. Kulturkritik ist das durchaus, aber keine opahafte Früher-war-alles-Spexiger-Haltung. Nickels Sprache ist überbordend expressiv, die Anspielungen sind fein kuratiert, Emphase und allerlei ernste wie unernste Scherze gestattet. Diese Literatur des Reichtums verweigert politisch opportune Statements, likeheischende Empörungen, das gefahrlose Ressentiment. Es ist Empowerment für die Kunst.
Gegen eine Exekution vermeintlich woker Lebensführungen setzen „Hysteria“, „Spitzweg“ und das neue „Punk“-Stück eine poetische Wachheit, ausgelöst durch überaus grelle Bilder, die oft philosophisch, mindestens theoriegesättigt, doch niemals unter dieser Theorie erstarrt sind. „Punk“ ist zugleich eine schräg verzerrte Post-Punk-Coverversion des nicht nur unter Popliteraten so beliebten wie einflussreichen Romans „Weißes Rauschen“ von Don DeLillo, der das Heraufziehen einer neuen, alles unsicher werdenden Zeit – letztlich die Ära des Digitalen – in ein betäubendes Katastrophenmärchen verpackte. Eine großangelegte Trilogie findet hier ihren Abschluss mit drei verwandten, doch absolut eigenständigen Büchern, die zwar aufeinander verweisen, doch mühelos für sich stehen und auch in jeder beliebigen Reihenfolge gelesen werden können.
Leichthin reimt sich im neuen Roman eine im Punk-Geiste angeschlagene Saite auf Satie, jenen französischen Avantgardisten des Jazz, des Ambient, der Neuen Musik und des Pop, der am Ende dieser unterhaltsamen Geschichte zitiert wird mit den Worten: „Zeigen Sie mir etwas Neues; ich will von vorn anfangen.“ Im Sinne Erik Saties begehrt dieser „Punk“-Roman den euphorischen Neuanfang, bläst als frischer Wind den Staub unserer überreglementierten Gegenwart weg damit eine Alternative zum Vorschein kommen und wieder ein offeneres, durch echte, menschengemachte Kunst befreites Leben beginnen kann.
Eckhart Nickel: „Punk“, Piper, München, 208 Seiten, 22 Euro (das Beitragsbild hat Nickels Lektor Olaf Petersenn fotografiert)