Rezension: „Ein Seher“

Der Belgier Franz Hellens ist einer der bedeutendsten französischsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts – und hierzulande nahezu unbekannt. Erstmalig erscheint auf Deutsch eine Erzählung Hessels, die einen überaus unheimlichen Maler vorstellt.

Wohin man auch sah im 19. Jahrhundert, wuchsen die Bildangebote ins schier Unermessliche. Erfindungen wie die Fotografie, das Röntgenverfahren oder der Film schufen neuen Formen des Sehens – wofür sich selbstverständlich auch die Schriftstellerinnen und Schriftsteller jener Zeit interessierten. 1892 schreibt der belgische Symbolist Georges Rodenbach seinen Roman „Das tote Brügge“, ergänzt durch fotografische Ansichten des belgischen Kanalstädtchens. Knapp vierzig Jahre später veröffentlicht sein Landsmann Franz Hellens eine ebenfalls symbolistische Erzählung, die, in ähnlicher Stimmung wie Rodenbach, neue Betrachtungs- und Empfindungsweisen seziert. In „Der Seher“ wird ein namenloser Maler mit erstaunlichen Fähigkeiten vorgestellt.

„Ohne Alkohol wäre sein Leben ein ewiges Wehklagen gewesen. Denn weder die Malerei noch die leidenschaftliche Verehrung, die er seiner göttlichen Gattin entgegenbrachte, vermochten ihn von einem Übel zu heilen, das er von Geburt an in sich trug und dessen Spur selbst vom Tod nicht ganz auszulöschen war; seine Werke geben Zeugnis davon. Er war ein Seher.“

Durchdringend wie ein Röntgenapparat

Der Erzähler lernt den Künstler in Nizza kennen und wird sogleich gefragt, ob er möglicherweise ein Schriftstück bei sich trage. Er gestattet dem Maler, die ersten beiden Zeilen eines Briefes zu lesen, verschweigt aber, dass dieser Brief von einer Frau verfasst wurde. „Unverzüglich gab er mir das Papier zurück und zeichnete oder vielmehr skizzierte ein Portrait der Absenderin, ohne auch nur einen Augenblick über ihr Geschlecht im Zweifel zu sein und so lebensecht, wahrheitsgetreu und voller Lebendigkeit, dass ich ganz erschüttert war. Obgleich er es nur scherzhaft gemeint zu haben und diesem Geniestreich keinerlei Bedeutung zuzumessen schien, erschrak ich, fühlte mich zutiefst getroffen, von jenem übernatürlichen Blick durchdrungen und durchbohrt, von innen und von außen zugleich beleuchtet, und zwar so eingehend, als säße ich vor dem Bildschirm des Röntgenarztes.“

Die Zeichnung trifft und zeigt tatsächlich die Freundin des nun beunruhigten Erzählers, der die Unheimlichkeit dieser Szene nur mit einer technischen Neuerung vergleichen kann. Übernatürlich wie ein Röntgenabbild erscheint der Blick des Künstlers, und obwohl dieses Ereignis den Erzähler in Unruhe versetzt, erlaubt er wenig später, dass auch von ihm ein Portrait angefertigt wird. „Es wurde ein Treffen bei mir zu Hause vereinbart, an einem Tag und zu einer Uhrzeit, die dem Künstler genehm wären. Dieser ließ mir ausrichten, er verlange (ich bezweifle, dass dies seine Worte waren) außer dem vereinbarten Betrag zwei Liter Wein auf dem Tisch, damit er ‚mit Leib und Seele bei der Sache’ sein könne.“

Sehen Sie selbst

Als der Erzähler das fertige Portrait anschaut, kann er sich selbst allerdings nicht erkennen. Er fühlt sich – auf durchaus doppeldeutige Weise – nicht gesehen. Doch worauf zielt dieses angebliche Abbild, das lediglich eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Porträtierten hat? Viele Jahre werden vergehen, bis deutlich wird, was der titelgebende Seher lange vor dem Erzähler erkannt hat, dieses offensichtlich zwischen verschiedenen Sphären vermittelnde Medium.

Deutlich steht diese Geschichte in der Tradition der schwarzen Romantik und kann es mit großen literarischen Denk- und Sehenswürdigkeiten wie E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ aufnehmen. Was den Reiz dieser späten Entdeckung ausmacht, ist, dass wir hier noch einmal sehen, wie vor 85 Jahren eine damals neue Wirklichkeit betrachtet wurde. Mit Franz Hellens „Der Seher“ wird die Galerie des bibliophilen Golden Luft-Verlags um ein literarisches Bildnis ergänzt, das man, einmal gesehen, für immer vor seinem geistigen Auge halten wird. Aber sehen Sie selbst.

Franz Hellens: „Ein Seher“, aus dem Französischen von Nicola Denis, mit einem Nachwort von Sabine Schmitz, Golden Luft, Mainz, 24 Seiten, 17 Euro

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