Rezension: Ehrlich brutal

Als Rechtsextremismus-Experte wurde Daniel Schulz mehrfach ausgezeichnet. Nun veröffentlicht er mit „Wir waren wie Brüder“ sein Romandebüt. Schulz erzählt darin über das Aufwachsen unter Neonazis während der Baseballschlägerjahre der 1990er. Ein beeindruckendes Buch, das auch ein Spiegel der Gegenwart ist.

Wenn ein Roman im Jahr 2022 rückblickend vom Aufwachsen im Brandenburg der Wende- und Nachwendezeit erzählt, wenn er dabei schonungslos sein möchte, brutal ehrlich und ehrlich brutal, dann erscheint jene Triggerwarnung, die Daniel Schulz’ „Wir waren wie Brüder“ vorangestellt ist, nahezu zwingend: “In diesem Buch werden rassistische, antisemitische, sexistische, homophobe und in anderer Weise diskriminierende Worte verwendet. Der Autor hat sich dafür entschieden, weil die Brutalität von Sprache und Gewalt, von der hier erzählt wird, miteinander verknüpft sind.”

Die Leserinnen und Leser sind also gewarnt, bevor der Erzähler zum ersten Haken ausholt und in der Berliner S-Bahn einen Neonazi zusammenschlägt, ihm eine Kopfnuss gibt, dann nachtritt, einmal, zweimal, bis die Polizei anrückt und den Mann auf die Potsdamer Bahnhofswache bringt; um seine Aussage aufzunehmen. Dort soll er sprechen, seinen Gewaltausbruch erklären. Doch der Erzähler beschließt zu schweigen, zuerst auf der Wache, später auch gegenüber seiner Anwältin. „Wenn ich einmal den Mund aufmache, könnte ich mit dem Reden nicht mehr aufhören. Alles würde ich ihr erzählen: die Geschichte, wie mich Volker vor den beiden Rambotitten gerettet hat. Vom Überfall auf dem Parkplatz, als ich weggerannt bin, und von dem Abend, an dem sie Mariam erwischt haben und ich vor lauter Angst nicht mal daran gedacht habe, dem kleinen Nowak eine reinzuziehen.“

Wenn Krieg ist, gewinnen wir

Anstatt sich vor Gericht oder der Polizei zu rechtfertigen, erzählt der Mann im Roman von seiner Brandenburger Jugend – und zwar in einer literarisch unmittelbaren, in einer eigenen Sprache. Daniel Schulz’ Geschichte beginnt im Jahr des Mauerfalls 1989. Da ist der Erzähler zehn Jahre alt und phantasiert mit einem Spielkameraden, wie sie die Makarow-Pistole des Vaters klauen und nach West-Berlin abhauen. „Da ballern wir auf irgendeinen Typen. Der muss ja nicht gleich tot sein oder so. Dann schießt die West-Polizei auf uns und unsere auf die. Wenn Krieg ist, gewinnen wir.“

Einen Krieg zwischen BRD und DDR wird es nicht geben – und dennoch Sieger auf der einen, Besiegte auf der anderen Seite. Im Jahr 2000 ist der Erzähler Anfang Zwanzig und wie viele seiner Freunde desillusioniert. Kanzler Helmut Kohls Vision der blühenden Landschaften hat sich als leeres Versprechen entpuppt, um ostdeutsche Stimmen zur Wiederwahl der CDU zu gewinnen. Zwischen 1989, dem Anfang, und 2000, dem Ende, liegen 270 Seiten, die nachzeichnen, wie fruchtbar der Schoß war, aus dem die rassistische Gewalt der ostdeutschen Baseballschlägerjahre kroch.

Ein Areal der Kälte

Entlang einer chronologisch erzählten Adoleszenz taucht die Geschichte bildhaft in Erziehungs-, Familien- und überkommene DDR-Gesellschaftsstrukturen ein, während Fabriken geschlossen, einst enteignete Gärten – die letzten blühenden Landschaften – zurückgegeben werden, während statt Lieder der „Freien Deutschen Jugend“ Matthias Reims „Verdammt, ich lieb Dich“-Schlager gespielt wird und westdeutsche Produkte flutartig die Konsumgüter der ehemaligen DDR verdrängen. „Meine Mutter hat mir ein Lexikon gekauft. Namibia ist dadrin immer noch von Südafrika besetzt. Das sage ich ihr nicht, sie wird immer so traurig, wenn sie denkt, sie hat sich wieder Westschrott andrehen lassen.“

Brandenburg verwandelt sich von Seite zu Seite immer mehr in ein Areal der Kälte, der Härte, der Feindseligkeit gegenüber allem, was als fremd betrachtet wird. Ein Freund der Mutter schimpft über vietnamesische Einwanderer. Arbeitslose Väter sitzen depressiv in ihren Garagen, während sich die pragmatischeren Mütter umschulen lassen. Aus Mitschülern werden Nazis, die mit Baseballschlägern Jagd auf Andersdenkende und Andersaussehende machen, die Flüchtlingsheime und Diskotheken überfallen. Sogar der Ausflugssee wird zur No-Go-Area, zum lebensfeindlichen Gebiet. „Ein Mädchen brüllt. Oder ist es eine junge Frau? Sie hat blonde Haare, die sind auf der einen Seite des Kopfes ganz kurz und auf der anderen länger, sie hat einen leuchtend roten Badeanzug an und ein Tattoo auf der Schulter, das du nicht erkennst. Sie brüllt: ‚Hast du den Arsch offen, was machst du denn mit dem Kleenen?’“

Gewalt formt Charakter

Der „Kleene“ wird von einem tätowierten Neonazi angepinkelt, man kann es nicht feiner ausdrücken. Durch demütigende Erfahrungen wie diese werden Kinder zu Kriegern. Gewalt formt ihren Charakter. Es ist eine Gewalt, die in der damals postmodernen Welt referenzloser Zeichen als Möglichkeit gesehen wurde, überhaupt noch Grenzen, die des eigenen Körpers, zu spüren. In den 1990er Jahren ist Gewalt auch deshalb eines der bestimmenden Themen westlicher Literatur. 1991 erscheint die Serienkiller-Phantasie „American Psycho“ von Bret Easton Ellis, 1996 der männlichkeitsdekonstruierende „Fightclub“-Roman von Chuck Palahniuck. In Thomas Hettches „Nox“ von 1995 wird ein Schriftsteller gefragt, ob er in der Realität ebenso gewalttätig sein könnte wie in seinen Geschichten. Wer den Fragen in Daniel Schulz’ Roman folgt, bekommt eine Ahnung von den damaligen Problemen, von der Gefahr: „Warum konnte Mike sich nicht gegen diesen Typen mit dem Messer wehren? Warum trainiert er dieses Wushu überhaupt? … Warum war dein Vater überhaupt auf dieser Liste? Hat er Bomben gebaut oder so? … Warum lüge ich? … Warum bist du eigentlich nicht mehr links?“

Du bist nicht wie ich

Warum trainiert er dieses Wushu überhaupt, wo doch alles so harmlos anfing mit dem Mauerfall und Matthias Reims’ „Verdammt, ich lieb Dich“. Warum grölen am Ende die Skinhead-Rocker der „Böhse Onkelz“: „Du bist nicht wie ich / wie kannst du für mich reden / du weißt nicht, wie ich denke / ich leb mein eigenes Leben.“ So klang die rechtsradikale Identitätspolitik der Neunziger, ebenso wie die Identitätspolitik unserer Tage behauptend, dass nur Betroffene ihre Geschichte erzählen dürfen. Interessant. Dass Daniel Schulz’ dieses Zitat aus dem Böhse Onkelz-Song „Danke für nichts“ einbaut, zeigt, wie sehr sein Roman auch als Spiegel der Gegenwart funktioniert. Das ist die eigentliche Triggerwarnung, die diesem schonungslos offenen Debütroman gerecht wird. „Wir waren wie Brüder“ spricht, während die Wirklichkeit schweigt. Das ist schlichtweg bemerkenswert.

Daniel Schulz: „Wir waren wie Brüder“, Hanser Berlin, 288 Seiten, 23 Euro.

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