Rezension: „Der Vogelgott“

Susanne Röckel ist die Außenseiterin unter den Favoriten: ihr beeindruckender Roman „Der Vogelgott“ steht auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis – ist aber nicht in einem der großen Verlagshäuser erschienen. Wie stehen seine Chancen?

Die Beschwörung höherer Mächte ist ein literarischer Urmoment – und weil Susanne Röckel ihren neuen Roman präsentiert unter dem schönen Titel „Der Vogelgott“, wird gleich zu Beginn diese höhere Macht beschworen. Erzählt wird aus vier Perspektiven von der Suche nach einem mystischen Tier, nach einer Allegorie, die erscheint in Gestalt eines gigantischen Greifs. Dieser Greif wird angebetet in einem verwilderten, nicht näher bezeichneten Land, in das der Hobby-Ornithologe Konrad Weyde reist, um in einer Welt zu landen, die vollkommen anders organisiert ist als unsere technisch-rationale Effizienzgesellschaft:

„Es gab keine Hierarchie mehr zwischen Pflanzen und Tieren und Menschen; alles war Natur – Teil, Aspekt, Gesicht dieser ungeheuren Natur, die gnadenlos zerstörte und grundlos Neues entstehen ließ und mit Tausenden, Millionen von Stimmen unablässig das Loblied auf sich selbst sang, und auch ich existierte als ein Moment dieser Natur.“

Hier spricht Theodor, der Sohn des besagten Hobby-Ornithologen. Theodor, sowie seine beiden Geschwister Dora und Lorenz erzählen auf je unterschiedliche Weise von der gralsähnlichen Suche des Vaters, die in den 50er, vielleicht frühen 60er Jahren stattgefunden hat – man erfährt es nicht genau. Diese Unklarheiten sind Programm. Der Leser wird mit diesem Expeditionsroman selbst ein Suchender, – und in Differenz zu anderen formal avantgardistischen Erzählungen, ist die Sortieraufgabe des Lesers mitnichten einem erzählerischen Unvermögen geschuldet. Im Gegenteil.

Die Recherchen der Geschwister sind mehrdeutig, sie überlagern sich, sie überschlagen sich, sie sind sich teilweise sogar widersprechende Erinnerungen an ihren oft bestrafenden Schöpfer. Die Recherchen der Geschwister sind Auseinandersetzungen mit dem Rätselhaften, mit einem Rest von etwas, das im Halbdunkel bleibt selbst für die scheinbar aufgeklärten, für die erleuchteten Menschen unserer Tage. – Der unbegreifliche Greif ist selbstverständlich mehr als ein Vogel. Er ist der Vater aller Dinge, dem sich der strafende, alttestamentarische menschliche Vater stellt. Als „kalt und boshaft“ wird der Hobby-Ornithologe an einer Stelle beschrieben, und es ist klar, dass sich dieser Mann intellektuell überfordert fühlt, als er dem Vogelgott Aug in Auge gegenübersteht, als er dem verleugneten Mythos ins Antlitz blickt:

„Der König der Vögel ist der gütige Vater seines Volkes. Einst war es kalt und dunkel in der Welt, es gab weder Pflanzen noch Tiere, die Menschen hatten Hunger, und die Kinder, die geboren wurden, starben wie die Fliegen. Der König aber war unsichtbar. Inmitten seiner Späher und Herolde schwebte er so hoch am Himmel, dass keines Menschen Auge ihn wahrnehmen konnte.“

Der Wahnsinn der Normalität

Der technisch-kühle Vater wird den Vogel auf seine Weise besiegen, und daheim als ausgestopftes Artefakt präsentieren. Es ist überdeutlich, dass hier jemand tötet, was er in sich selbst vernichtet zu haben glaubt. Sein Sohn Theodor wird Jahrzehnte später ebenfalls in das unbekannte Land reisen, wo der Vogelgott verehrt wurde – und im Widerstreit mit der Natur das spüren, was der Philosoph Immanuel Kant unter dem Begriff des „Erhabenen“ subsummierte. Theodor wird spüren, was sein Vater nicht begreifen konnte. Er wird eine Erfahrung machen, die uns Stadt- und Internetmenschen kaum zugänglich ist. Die Tochter Dora dagegen, eine Kunsthistorikerin, versucht über die Anschauung und tiefe Beschäftigung mit alten Bildern dem Vater und zugleich auch dem Göttlichen nahekommen. Es soll nicht verraten werden, in welch düsteren Schlund sie sich selbst damit zieht, denn es gibt im Bunde der Geschwister den Dritten, der Lorenz heißt – und sein Leben geradezu als Gegenstück zu den Maximen seines Vaters gestaltet:

„Geld, Erfolg, eine anerkannte Stellung, all das, was er erreicht hatte und für allein erstrebenswert hielt, hatte ich verworfen. Ich hatte nichts von ihm übernehmen wollen – aber war nicht auch die vage Vorstellung in mir gewesen, dass ich nach meinem trotzigen Auszug eines Tages triumphierend zu ihm zurückkehren und ihm beweisen würde, dass ich alles besser machte als er?“

Auch der hier gehörte Sohn Lorenz macht sich auf die Suche, nur trifft er nicht auf die Wildnis oder religiöse Kunst, sondern auf einen modernen Alchimisten, der ein Medikament entwickelt, das die Natur des Menschen auf ein nahezu gottgleiches Level hieven kann: „Ein Mittel, das die Unvollkommenheit unseres Gehirns überwinde und dazu führe, dass endlich das ganze Potential des Individuums ausgeschöpft werden könne. So naiv sei die Wissenschaft heute nicht mehr (…), dass sie sich einbilde, ewige Jugend erschaffen zu können. Doch die Krankheit, die dem heutigen Menschen am meisten zu schaffen mache, könne ausgerottet werden wie einst die Pest.“

Der Mensch auf der Suche nach Höherem – und dabei stetig scheiternd: das ist Thema dieser elegant beschriebenen, ohne raunendes Pathos geschilderten Odyssee von Susanne Röckels Roman „Der Vogelgott“. Es ist ein Roman, der zu Recht auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis steht, weil er auf besondere Weise die Literatur für die Transzendenz öffnet, weil er zeigt, dass Fiktion ihren eigenen Wahrheitsgrund haben kann – aller historischen Gegenwartsromane zum Trotz.

Möglicherweise ist diese irrlichternde Geschichte gleichzeitig zu schön und zu wenig realistisch, um ausgezeichnet zu werden mit diesem eher an handfeste Erzählungen glaubenden Blockbuster-Preis; nur darf diese Einschätzung nicht als etwas Abwertendes verstanden wissen: Was ist der Mensch gegen die Natur? Kann Kunst den leeren Himmel füllen? Ist unsere Technik mit dem Göttlichen endlich auf Augenhöhe? Was sind wir im Angesicht der Todesgewissheit? – Das sind einige jener Fragen, die im Roman „Der Vogelgott“ verhandelt werden. Es ist ein Genuss, inmitten der realistischen Shortlist-Konkurrenz etwas derart schillernd Schönes, untergründig Unheimliches und sprachlich Elegantes zu finden.

Susanne Röckel: „Der Vogelgott“, Jung & Jung, Salzburg, 272 Seiten, 22 Euro

 

 

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1 Kommentar

  1. Danke für die Buchbesprechung, ich hatte noch nichts vom Vogelgott gehört, sehe aber in der Beschreibung der Geschwister Parallelen zu meiner Familie. Es ist schwer, sich von den Idealen der Eltern zu lösen, besonders, wenn man von ihnen geliebt wird.

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