Rezension: „153 Formen des Nichtseins“

Heute Abend senden wir eine Deutschlandfunk-Lesezeit, die sich „153 Formen des Nichtseinswidmetso der Titel des beeindruckenden Romandebüts von Slata Roschal, in diesem Jahr nominiert für den Deutschen Buchpreis, eine Identitätssuche in 153 kurzen Kapiteln.

Unsere Identität wird nicht nur aus dem, was wir sind, gebildet, sondern auch aus dem, was wir nicht sind. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Sein und Nichtsein wird permanent evaluiert – oft, um Kundenprofile zu erstellen. Es gibt Streaminganbieter, die prozentgenau ausweisen, welcher Film unseren Vorlieben entspricht, oder eben nicht entspricht, basierend auf vorherige Filme und Serien, die wir gesehen oder eben nicht gesehen haben. Auf einem ähnlichen Prinzip basieren Dating-Apps, die Partnervorschläge anhand vorheriger Matches ermitteln. So werden mit jeder neuerlichen Wahl Anschlusskommunikationen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher.

Weil dieses Prinzip über Ausschluss und Wahl so gegenwärtig ist, passt Slata Roschals Debütroman „153 Formen des Nichtseins“ in unsere Zeit. Hier wird eine Figur langsam sichtbar durch alles, was über sie ausgeschlossen werden kann. Sein übers Nichtsein sozusagen, wie eine klassisch entwickelte Fotografie, der ein Negativ zugrundelag. Bereits die erste, sehr kurze Szene erzählt deshalb auf mehreren Ebenen vom Nichts; vom Nichtverstehen, vom Nichteinmischen und Nicht-Präsent-Sein. Beschrieben wird eine alte Frau mit blondierten Haaren und pink geschminkten Lippen, die vorm Obststand eines Einkaufscenters steht.

„Sie betastet die vor ihr liegenden Melonen und fragt die Verkäuferin: Cколько стоят дыни? Die Verkäuferin bemerkt nicht, dass die Frage an sie gerichtet ist. Die alte Frau wiederholt langsamer: Skol’ko stojat dyni? Die Verkäuferin sortiert weiter Zitronen. Die alte Frau spricht noch langsamer und deutlicher: Skol’-ko sto-jat dy-ni? Als sie keine Antwort bekommt, lässt sie die Melonen sein und geht weiter.“

Eine konservative Familie

Beobachterin dieser Obststandszene ist die Hauptfigur des Romans, die deutsch-russische Jüdin Ksenia. Sie ist eine Fremde, wie es ihr Name bereits andeutet, der aus dem altgriechischen ξενία, die Fremde, gebildet wird. Als Figur steht sie zwischen den Ländern, Sprachen, Religionen und Geschlechtern. Konsequent, dass bereits in der ersten Verkaufsszene kein Ich genannt, sondern nur eine Beobachtung vorgeführt wird, die wiederum selbst zum Nichts zurückführt

Die alte Frau wird nämlich nicht bemerkt und deshalb auch nicht verstanden. Der Leser versteht möglicherweise ebenfalls nichts, da die dreimal gestellte Frage nach dem Preis der Melonen nicht übersetzt wird. Dass Ksenia diejenige sein muss, die diese Einkaufscenter beobachtet, wird erst später mit den ersten, äußerlichen Fakten über die Erzählerin deutlich.

“Meine Familie war ziemlich konservativ, aber auf ihre eigene, originelle Art. Bei uns zu Hause herrschte eine Mischung aus russischer Familientradition, sowjetischer Zensur, religiösem Fanatismus und den individuellen Spezifika meiner Eltern. In der dunklen Perestroika-Zeit, als sie mit zwei kleinen Kindern in einem WG-Zimmer hausten und ums Überleben kämpften, waren sie Zeugen Jehovas geworden und haben nicht mehr von ihrem Glauben abgelassen. Als ich vier Jahre alt war, zogen wir nach Deutschland, ich hatte einen jüdischen Großvater, der bereits in Deutschland war, diesem Großvater durften fünf andere Personen, seine Frau, seine Tochter, sein Schwiegersohn, seine Enkelkinder folgen.“

Verkaufe zwei Kaninchen

Nach diesem Prinzip der langsamen Informationspreisgabe funktioniert Slata Roschals “153 Formen des Nichtseins”. Hauptfigur Ksenia gewinnt mit jeder der kurzen Szenen eine straffere Kontur. Es sind kleinere Erzählstücke, ebenso Kleinanzeigen, Protokolle, Notizzettel, E-Mail-Korrespondenzen. Wir erfahren, ganz im Sinne des Titels, dass Ksenia keinen Nachhilfeunterricht in Russisch gibt und keine Kaninchen verkaufen will – anders als jene fremden Menschen, die genau das im Internet anbieten oder suchen. Wir erfahren, welche Ringe sie verloren hat, ihr also nicht mehr gehören, und woran man sich als Zeuge Jehovas halten muss. Ihre ursprünglich, also nicht mehr jüdische Familie hat sich für diese christliche Sekte entschieden. Der Text folgt der Übersiedlung nach Deutschland, erinnert an zurückliegende Urlaube und Selbsterfahrungskurse. Er berichtet mit feinem Humor von Ksenias Adoleszenz, mit der wiederum Dinge verschwinden.

“Dann die Röcke, diese Röcke, immer das gleiche Problem, neue Röcke wurden schnell kurz und kürzer und bedeckten schließlich nicht mehr die Knie, beim Sitzen wurden sie noch kürzer, beim Bücken bedeckten sie auch hinten nichts mehr, und Mutter wusste nicht, dass ich sie extra hochzog und umkrempelte oben und kleine Falten reinnähte, um sie enger und kürzer zu machen.”

In unserer hyperindividualisierten Gegenwart, in der viele Menschen mehr denn je auf ihrer Unverwechselbarkeit beharren, ist „153 Formen des Nichtseins“ ein kreativer Blick auf nicht realisierte Biographiemöglichkeiten. Form und Inhalt mögen zunächst ungewöhnlich erscheinen. Dennoch bleibt dieser kurze Text unterhaltsam, entspannt, angenehm lesbar. Slata Roschals Roman irritiert eine Gegenwartsliteratur, die Identität, Zugehörigkeit und Befindlichkeiten auf herausgehobene Weise thematisiert. Er zeigt, was es bedeutet den Anderen nicht als bloßen Spiegel des Ichs, sondern tatsächlich als Anderen wahrzunehmen – und ist damit eines der interessantesten Debüts des langsam zu Ende gehenden Literaturjahrs 2022.

Slata Roschal: „153 Formen des Nichtseins“, Homunculus Verlag, Erlangen, 176 Seiten, 22 Euro

Empfohlene Artikel