Laudatio: „Die Summe des Ganzen“

An vergangenen Freitagabend wurde Sasha Marianna Salzmann für ihren Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ mit dem Hermann-Hesse-Literaturpreis geehrt. Steven Uhly erhielt den Förderpreis für „Die Summe des Ganzen“ – auf den ich die Laudatio gehalten habe.

„Hans Giebenrath war ohne Zweifel ein begabtes Kind; es genügte, ihn anzusehen, wie fein und abgesondert er zwischen den anderen herumlief. Das kleine Schwarzwaldnest zeitigte sonst keine solcher Figuren, es war von dort nie ein Mensch ausgegangen, der einen Blick und eine Wirkung über das Engste hinaus gehabt hätte. Gott weiß, wo der Knabe die ernsthaften Augen und die gescheite Stirn und das Feine im Gang her hatte. Vielleicht von der Mutter?“

Dies schreibt Herrmann Hesse in seiner verführerischen, ursprünglich als Roman angekündigten Erzählung „Unterm Rad“. Er berichtet von einem Jungen, der angesichts der ihm aufgedrängten Last zerbricht. Der hier vorgestellte Hans Giebenrath erträgt von Seite zu Seite weniger, dass er von seiner Umwelt als ein Herausgehobener angesehen, dass er als Projektionsfläche benutzt wird.

Er wird nur vermeintlich gefördert, tatsächlich gefordert, ja überfordert von jenen, die für seine Obhut verantwortlich sind – sehr fein fühlt sich diese Geschichte in die strapazierte Jugendseele ein. Hesses „Unterm Rad“ nimmt Beobachtungen vorweg, die erst zwanzig Jahre später, mit den kinderanalytischen Arbeiten Anna Freuds, langsam ins kollektive Bewusstsein gelangen.

Und noch heute mag man sich fragen, ob allen Mitgliedern unserer Gesellschaft bewusst ist, dass die Kinderseele eine behutsame Behandlung verdient, dass alles seine rechte Zeit hat. Zeit, die Hans Giebenrath schlechterdings nicht gegeben wird. „Unterm Rad“ landet er. In dieser erschütternden Erzählung gerät „ein Unglück übers andere!“

Auch Steven Uhly erzählt in der heute mit dem Hermann-Hesse-Förderpreis geehrten Geschichte von einem unschuldigen Jungen, der schädlichen Projektionen ausgesetzt ist. Wer „Die Summe des Ganzen“ liest und zugleich die Schriften Hermann Hesses kennt, der fühlt sich unweigerlich an jene 1906 erstveröffentlichte Adoleszenzgeschichte „Unterm Rad“ erinnert, sobald er bei Steven Uhly vom lieblichen Sängerknaben Armando liest.

Armando, übrigens die spanische Version des deutsche Hermann, Armando ist die erste Stimme eines spanischen Kirchenchors und „wenn Armando singt, hört der Padre die Engel singen, wenn Armando den Herrn lobpreist, kommen dem Padre die Tränen. Hätte der Junge doch nur nicht diese seltsame Ausstrahlung, die ihn nervös und manchmal auch ein wenig wütend macht. Armando wirkt wie jemand, der vollkommen in seiner eigenen Welt lebt und nichts und niemand anderen braucht. Manchmal fragt der Padre sich, ob es Hochmut ist.“

So wird Armando beschrieben in dieser, wie „Unterm Rad“, ebenfalls als Roman angekündigten Geschichte, die tatsächlich als Novelle gelesen werden kann, als eine Novelle, in der beeindruckend konzis ein derzeit viel diskutiertes Unrecht auf einer höheren, literarischen Ebene verhandelt wird; der Missbrauch an jenen unschuldigen Kindern, die sich einst in der Obhut christlicher, vornehmlich katholischer Kircheneinrichtungen befanden.

Jeder einzelne Missbrauch ist eine unerhörte Begebenheit, jahrzehntelang vertuscht und verleugnet. Noch heute ist die Gesellschaft überordert von der Aufarbeitung dieses Unrechts, weshalb neben den Ermittlungsbehörden auch der Literatur die vornehme Aufgabe zukommt, das Monströse in Worte zu fassen – um zu verstehen.

Steven Uhlys „Die Summe des Ganzen“ fokussiert vorderhand, anders als Hesse, nicht das Opfer, sondern den Täter, der hier allerdings nicht gewürdigt, sondern gerichtet wird. Wir sind in einer Pfarrkirche Madrids, über die anfangs keinesfalls gesagt werden kann, ob sie ein Tatort oder ein Gerichtssaal ist: „Padre Roque de Guzmán, 50 Jahre, mittelgroß, ein wenig untersetzt, Stirnglatze, sitzt in einem hölzernen Beichtstuhl, der viel älter ist als der eckige Neubau, in dem er steht. Es ist 17:00 Uhr, ein Mittwoch. Anfang März. Außer sonntags sitzt Padre Roque jeden Tag um dieselbe Uhrzeit in diesem Beichtstuhl und wartet auf Sünder, die kommen, um ihr Herz auszuschütten und die Absolution zu erhalten.“

Prügelnde Ehemänner stellen sich vor, schambesetzte Witwen, Kleinkriminelle und Gelegenheitssünder. Die meisten beichten mindere Vergehen, die mit zehn Bußgebeten und drei Vaterunser abgegolten werden können, kleinere Diebstähle, Vorteilsnahmen, hin und wieder ein Seitensprung. Der Padre kennt die schwarzen Schafe seiner Gemeinde allzu gut.

An diesem späten Nachmittag tritt ein Fremder in den Beichtstuhl. Der unbekannte Sünder klingt gefasst wie jemand, der bereit ist, sich ins Unvermeidliche zu fügen. Er bekennt mit bebender Stimme: „Padre, ich habe unnatürliche Neigungen in mir entdeckt! Ich … ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Worin diese unnatürlichen Neigungen begründet liegen, wird beim ersten Zusammentreffen noch nicht offenbart. Aber der Sünder kommt mehrmals wieder.

Zwischen ihm und seinem spanischen Beichtvater entspinnt sich binnen weniger Tage ein Kammerspiel, in dem umso deutlicher wird, dass hier ein Pädophiler spricht, der es augenscheinlich auf Armando abgesehen hat, jenen engelsgleichen Sängerknaben, der, so erzählt es der Fremde, auch in seiner Obhut steht. Armando, der Talentierte, hat trotz seiner Begabung schulische Probleme; auch das verbindet ihn mit Hesses Giebenrath.

Der fremde Mann mit den unnatürlichen Neigungen ist Armandos Nachhilfelehrer – und er glaubt, sein Schüler becirce ihn unbotmäßig, wie schon Odysseus von den gefährlichen Sirenen gelockt wurde. Einige Zeilen aus dem Epos des Homer sind Steven Uhlys „Die Summe des Ganzen“ vorangestellt: „Lenke dein Schiff ans Land, und horche unserer Stimme. Denn hier steuerte noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber, / Ehʼ er dem süßen Gesang aus unserem Munde gelauschet.“

Die unerhörte Begebenheit dieser Novelle, hat sich noch nicht ereignet. Bislang ist es zu keinem körperlichen Übergriff gekommen. Es obliegt dem Padre, den drohenden Missbrauch abzuwenden. – So liest man Steven Uhlys „Die Summe des Ganzen“ auf ähnliche Weise wie Hermann Hesses „Unterm Rad“. Man möchte den Jungen warnen, wissend, dass seine Integrität bedroht ist. Armando selbst ahnt hingegen nichts. Ob der Padre der Richtige ist, um seinen Wunderjungen zu beschützen, erscheint bis kurz vor Schluss fraglich. Denn wir wissen nicht, auf welcher Seite dieser Geistliche steht, der dem Büßer sogar gut zuredet, wenn er sagt:

„Du bist nicht böse, mein Sohn (…) Du bist nur … verwirrt. Glaub mir, auch ich war einst verwirrt, auch ich habe gefehlt, weil ich verwirrt war, auch ich wusste nicht mehr, was Gut und was Böse ist, auch ich habe gefrevelt. Doch Gott hat mir vergeben, und jetzt bin ich hier und verrichte Sein Werk voller Dankbarkeit. Weil Er mich von dem Bösen erlöst hat! Weil Er mich nicht mehr in Versuchung führt!«

Das unschuldig Hilflose des jungen Armando und das wissend Hilflose des Lesers spiegeln einander – und mit jeder Seite wird deutlicher, dass nur vermeintlich von einem Täter berichtet, dass tatsächlich die Ausgesetztheit des Opfers erfahrbar gemacht wird. So steht diese Novelle solidarisch aufseiten Armandos und damit auch solidarisch bei allen, die je von der Kirche missbraucht worden sind.

„Es ist aber zweierlei, ob du die Bibel bei frommen und gewissenhaften Lehrern studieren lernst oder bei einem, der nicht mehr an den lieben Gott glaubt“, wird Hans Giebenrath gesagt, der nicht weiß, wie ihm geschieht. – Auch der Leser von Steven Uhlys „Die Summe des Ganzen“ wird irgendwann nicht mehr wissen, wie ihm geschieht, denn zahlreiche Wendungen dynamisieren diesen klug gebauten Text, der so deutlich in der Tradition Hermann Hesses steht, dass die heutige Auszeichnung nachgerade zwingend erscheint.

Sie erscheint ebenso zwingend, weil Steven Uhly auf beeindruckende Weise gelingt, das kaum Aushaltbare erfahrbar zu machen mit einer Geschichte, die sich bereits jetzt ihren Platz im weiten Kanon der Priestererzählungen sichert. „Die Summe des Ganzen“ ist ein ebenso mitreißendes wie mitfühlendes Buch ­– „das Buch der Stunde“, so schrieb es bereits Sandra Kegel in ihrer euphorischen Besprechung für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Sandra Kegel ist, neben Stefan Kister von der Stuttgarter Zeitung und meiner Wenigkeit, Mitglied der diesjährigen Jury des Hermann-Hesse-Literaturpreises. Wir geben uns in dieser Stunde die Ehre, Steven Uhly auszuzeichnen, der ohne Zweifel ein begabter Schriftsteller ist, ernsthaft, fein und gescheit, der en passant einen der letzten Sätze aus Hesses „Unterm Rad“ widerlegt, beweist er doch, dass man gerade mit den Besten – anders als mit Hans Giebenrath – sehr viel Glück haben kann.

Steven Uhly: „Die Summe des Ganzen“, Secession, 160 Seiten, 22 Euro

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