Vom Zinseszins zum bäuerlichen Kleinunternehmer: Der erfolgreiche Filmemacher Ralf Westhoff erzählt eine über 200 Jahre zurückliegende Aufstiegsgeschichte als absolute Gegenwartsliteratur. Ein Wunder. Und eine Lehrstunde ökonomischer Emanzipation.
Es steht nicht gut um diesen Bauernhof, in den Liza eingeheiratet hat – irgendwo im deutschsprachigen Raum, Anfang des 19. Jahrhunderts. Über ihren Kopf hinweg, wie es damals augenscheinlich Sitte war, hatten sich ihr Vater und die Schwiegermutter vom Nachbarhof über das Brautpaar geeinigt. Die Äcker würden gemeinsam bewirtschaftet werden, um das materielle Überleben sicherzustellen – in äußerst schwierigen Zeiten. Der Vater von Maximilian, Lizas frisch angetrautem Ehemann, hatte heimlich einen hohen Kredit aufgenommen, das Geld eingesackt, um noch am gleichen Tag zu verschwinden.
Nun drückt eine enorme Zinslast auf den Dächern dieser Einöde, in die Kornhändler lediglich klagend reisen, um jährlich weniger zu zahlen für den mühsam geernteten Roggen. Von diesen Händlern sind alle Bauern abhängig. Undenkbar erscheint, dass sie ihre Ernte selbst vermarkten: „Das Bauernleben war hart und armselig, und was sie anbauten, war nicht viel wert. Es war besser, es endlich einzusehen, statt sich Jahr für Jahr nach dem Verkauf des Korns wieder wochenlang zu grämen. Mehr als dieses Leben war einfach nicht möglich.“
Wir brauchen ökonomisches Wissen – dringend
Dass mehr als dieses Leben nicht möglich sei, will Liza, die Bauerstochter und zwangsverheiratete Gattin, keinesfalls hinnehmen. Auf das Arrangement mit Maximilian kann sie sich einlassen, auf diesen scheuen, an der Fallsucht erkrankten Jungen von der anderen Seites Baches. Dass ihr Vater, sobald er getrunken hatte, ihr gegenüber handgreiflich geworden war, nimmt sie wie einen Regenschauer, und redet sich ein, er sei kein unrechter Mann. Selbst die Schulden des Nachbarhofs, die nun auch die ihrigen sind, kann sie als gegeben akzeptieren – aber unter keinen Umständen will Liza billigen, dass sie ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert ist.
Die junge Bäuerin mag keinen Begriff für Klassenkampf und Kapitalismus haben, für Revolution und gesellschaftspolitische Veränderungen; aber sie spürt, dass sich etwas, möglicherweise sogar alles ändern muss. Sie wird um ihr Hab und Gut – und das ihrer Eltern – kämpfen, die drohende Insolvenz beider Höfe möglicherweise abwenden. Doch wie soll sie es anfangen? Der Debütroman von Ralf Westhoff eröffnet mit einem Zitat, das die angemessene Richtung vorgibt: „Ökonomische Fragen sind zu wichtig, um sie einer kleinen Kaste von Spezialisten und Führungspersonal zu überlassen. Dass die Bürger sich dieses Wissen zurückerobern, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Änderung der Machtverhältnisse.“
Und wenn’s lediglich Pfennige sind
Jener Gedanke des französischen Ökonomen Thomas Piketty zeigt an, dass diese historische Erzählung als Gleichnis auf jetzige Verhältnisse gelesen werden kann, als unbedingte Gegenwartsliteratur. Ausgehend von der Grundsituation – verschuldeter Hof, entflohener Bauer, übermächtige Tradition – entfaltet die Geschichte ein Tableau wirtschaftlicher Knechtsverhältnisse. So, wie der Bauer seine Mägde und Tagelöhner ausbeutet, wird wiederum er selbst übervorteilt von den Kornhändlern, Mühlenbesitzern und Kontorskaufleuten. Damit sich etwas ändert, reitet Liza allein in die nächstliegende Stadt, wird vorstellig bei zahlreichen Geschäftsleuten und taucht so immer tiefer ins Wirtschaftssystem ein. Sie spricht mit Kontoristen und einem Richter, mit dem Müller und jenem Notar, der den Schuldvertrag ihres entlaufenen Schwiegervaters beglaubigt hat.
„Niemals solle sie nichts zahlen an die Bank. Niemals und nichts hatte er betont, und er sah ihren ratlosen Blick und ihren Wunsch, ihn zu verstehen. Egal, wie gering der Betrag sei, den sie bezahlen könnten, sagte der Notar, alles sei besser als nichts. Bei Gericht würde man neuerdings nicht nur auf Summen, sondern auch auf guten Willen achten. Daher sollten sie auch, wenn irgendwie möglich, jeden Monat ein wenig mehr einzahlen, ja, das sei sicher hilfreich. Dann wischte er streng mit dem Zeigefinger durch die Luft, um seinem Satz die nötige Dramatik zu geben. Und niemals nichts.“
Mit diesem wohlmeinenden Ratschlag, der Hof solle „Niemals nichts“ einzahlen, ist der Titel des Romans begründet. Anfänglich legt Liza lediglich Pfennige auf den Tisch des Bankangestellten. Diese reichen nie zur Tilgung, geschweige denn zur Bedienung des Zinsbetrags. Doch die ehrgeizige Bäuerin verhandelt in der Stadt mit ihren Kreditgebern, auf dem heimischen Hof mit ihren Eltern, der Schwiegermutter, mit ihrem Gatten.
Entrepreneurship par excellence
Sie recherchiert den Ertrag von Roggen und Bohnen, verschließt sich keiner Neuerung, sondern informiert sich auch über den Anbau einer neuen Ackerfrucht: der Kartoffel, die vielen Zeitgenossen als giftig gilt. „Nicht einmal ein Schwein würde das Zeug fressen“, schreien engstirnige Wutbauern. Doch Liza lässt sich nie beirren. Eine hinreißende, emanzipierte Frauenfigur hat Ralf Westhoff hier ersonnen, eine Figur, die Potentiale erkennt. Ihr Gatte Maximilian mag zwar unverständlich sprechen, seit er sich während eines epileptischen Anfalls die Zungenspitze abgebissen hat: aber er besitzt die seltene Kompetenz des Lesens.
Ihre Schwiegermutter kümmert sich nicht nur um den Hof, sondern kann recht passable Roggenbrote backen. Ihr Vater mag sich, stur wie ein Esel, sträuben, als ihm unterbreitet wird, ausgerechnet Bohnen anzupflanzen. Doch er lässt sich auf die neumodischen Ideen seiner Tochter ein. Und Lizas Mutter hat wertvolles Fachwissen über Gemüse, Obstsorten und Gartenkräuter, die im heimischen Nutzgarten gedeihen.
„Nah an der Küchentür in der Sonne lag der eingezäunte Flecken, voll wilder Ranken, ausladender Blüten und dichter Stauden. Kein Stückchen blanker Boden war zu sehen, alles blühte und spross, dass man meinte, die Wurzeln in der weichen Erde wachsen zu hören. Da gab es dunkelroten Mangold, bauchigen Fenchel, Bohnen in allen Formen und Farben, zwischendrin Kräuter von ungekannter Schärfe und überall Beeren, süß und sauer zugleich, so viel man wollte, und jeden Tag aufs Neue.“
Mit lauter, kräftiger Stimme
Ralf Westhoff erzählt die Geschichte eines wirtschaftlichen Aufstiegs, einer anfänglichen Unwahrscheinlichkeit, die von Seite zu Seite wahrscheinlicher wird. Klaren Blicks schaut dieser Roman auf ökonomische Zusammenhänge und Unternehmensstrategien, auf die Gabe lebenslangen Lernens und die Notwendigkeit einer tatkräftigen Resilienz. Man ist irgendwann wie elektrisiert ob jeder neuen Idee, die Liza ihren Geschäftspartnern, ihren Kunden und Kollegen schmackhaft macht.
„Einen schönen Tag, wünschte Liza und musste Stolz und Freude und Aufgeregtheit verbergen. Maximilian sah sie mit großen Augen an. Sie hielt ihm die Münzen mit ebensolch großen Augen entgegen. In diesem Moment waren sie Bäcker, Händler, Kaufleute und immer noch Bauern. Sie umarmten sich und den besonderen Moment, und von da an rief Liza jedem Mann und jeder Frau hinterher, mit lauter, kräftiger Stimme.“
In einer evozierenden, die komplizierten Zusammenhänge enträtselnden Sprache erfüllt „Niemals nichts“ die didaktische Forderung Thomas Pikettys, dass ökonomische Fragen zu wichtig seien, „um sie einer kleinen Kaste von Spezialisten und Führungspersonal zu überlassen.“ Ralf Westhoffs Debüt atmet den freien Geist amerikanischer Kinofilme, die ihr Märchen „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ ausbreiten. Die pragmatisch gezeichnete Liebesgeschichte erscheint als Gegenfolie zum Schicksal der glücklosen Eheleute Johannes und „Lämmchen“ in Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ Derart reich ist dieses knapp 220-seitige Buch, dass man nur erstaunt sein kann, weshalb es im Feuilleton ignoriert wurde. Der poetische Ertrag dieses Romans übersteigt seinen Kaufpreis um ein Dutzendfaches. Hier hat jemand umsichtig gesät, noch in diesen Stunden darauf wartend, dass die verdiente Ernte endlich in klingender Münze abgegolten wird.
Ralf Westhoff: „Niemals nichts“, Rowohlt Berlin, 224 Seiten, 23 Euro