Im Herz der Finsternis

Der irische Booker-Preisträger Paul Lynch („Das Lied des Propheten“) hat sich hierzulande spät durchgesetzt. Deshalb erscheint erst dieser Tage in deutscher Übersetzung sein bereits vor sechs Jahren im Original veröffentlichte Roman „Jenseits der See“ – ein existentialistischer Überlebenskampf zweier Fischer, die in hochtechnisierten Zeiten der nackten Natur ausgesetzt sind.

„Wer weiß schon, ob das Leben Tod ist, oder der Tod das Leben?“ rätselte der antike griechische Dichter Euripides vor zweieinhalbtausend Jahren und wendete auf geradezu buddhistische Weise den menschlich-allzumenschlichen Blick auf unser Dasein und Ende. Ob das Leben lediglich als Vorlauf zum Tode betrachtet werden kann oder als eine von vielen, gleichwertigen Existenzmöglichkeiten, ob das, was wir Leben nennen, überhaupt vom Tod unterscheidbar ist, beschäftigt die Philosophie seit ihren Anfängen, denn hier begeben wir uns an die Ränder des Verstehbaren. Mit dem Satz über die Austauschmöglichkeiten von Tod und Leben eröffnet Paul Lynch seine Novelle, und deutet schon an, dass „Jenseits der See“ mehr erzählen wird als den bereits auf dem Klappentext angekündigten Überlebenskampf zweier Fischer, die vor der Küste Mexikos in einen Sturm geraten und so konfrontiert werden mit der nackten menschlichen Existenz angesichts jener Katastrophe, die sich in einer der ersten Szenen ankündigt: „Von Nordost kommt Sturm auf. Die Meldung ist raus. Sieh dir doch den Strand an. Die meisten Boote sind rausgezogen. Die übrigen kommen gerade rein.“

Göttliche Komödie 

Obwohl die Warnung abgesetzt wurde, werden sich an diesem Tag zwei Menschen in äußerste Gefahr begeben – und dabei mit der Sinnlosigkeit allen Seins konfrontiert werden. Die Konstellation und ihre symbolische Ausdeutung ist keinesfalls neu. Hans Blumenberg hat bereits das Motiv des Schiffbruchs von der Antike bis in die Gegenwart untersucht und als philosophische Leitmetapher erkannt. Lynchs Buch beginnt überaus harmlos und stellt einen Helden vor, der in der Mitte seines Lebens steht, wie der Reisende in Dantes „Göttlicher Komödie“ oder der Seemann Charlie Marlow in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“. Lynch charakterisiert seinen Helden als geistesträge Figur, als einen Mann, der ambitionslos in den Tag hineinlebt, der Spelunken besucht und leidenschaftlich raucht, seinen Job als Fischer immer mal wieder vernachlässigt und weiblichen Verlockungen eher lose ergeben ist, weshalb ihm auch bescheinigt wird: „Du glaubst an nichts. Du kümmerst dich um nichts, nur um dich selbst.“

Dieser wahlweise indolente oder auch existentialistisch gestimmte Mann hat es sich im Liederlichen bequem gemacht – und ist darüber wunderlich geworden. Manchmal halluziniert er, er habe bereits vor längerer Zeit, „das Leben eines anderen“ gelebt, seine gegenwärtige Existenz sei höchstens ein Traum und das erinnert sofort an das epochenprägende Theaterstück „Das Leben ein Traum“ des barocken Genies Pedro Calderón de la Barca, in dem die Grenzen des freien Willens behandelt werden. Paul Lynchs Held heißt passenderweise Bolivar. Aus dem Spanischen kommend kann dieser Name als „Flussufer“ übersetzt werden, so auf Bolivars Randexistenz, ebenso auf seine Aufbruchssehnsucht verweisend, die er vage als „Traum von einem Sturm“ wahrnimmt, als das Gefühl „einer einst gekannten, nun aber vergessenen Welt, die von jenseits der See fragt.“

Totenkopf als Menetekel

Bolivar will sich ein gutes Geschäft nicht entgehen lassen und sticht trotz des dräuenden Unwetters in See – und versucht zuvor, den unerfahrenen Hector anheuern, einen scheuen Jungen, der sich keineswegs vom üppigen Lohn anlocken lässt, sondern Bolivar einen Verrückten nennt. Auch dies ist ein Topos verschiedener Abenteuerstorys: die Warnung des Sehers vor der Gefahr – eine Warnung, die stets in den Wind geschlagen wird. Bolivar lässt sich nicht beirren. Er stimmt den Jungen um, verspricht ihm die Hälfte des gemeinsamen Fangs, umsäuselt ihn auf manipulative Weise. „Sag mir, Hector, was ist ein Sturm? Ein bisschen Wind, mehr nicht. Das Meer wird ein bisschen kabbelig. Echte Fischer sind so was gewöhnt. Mir ist noch kein Sturm begegnet, der mich unterkriegt. Wir fahren einfach raus und kommen einfach wieder rein. Kein Stress.“

Dass auf Hectors Pullover, wie als Menetekel, ein Totenkopf gedruckt ist, wird Bolivar erst später erkennen. Da sind die beiden bereits auf hoher See. Sie fahren weiter als die anderen Schiffer, dorthin, wo Bolivar glaubt, besonders fette Beute zu machen. Noch an Land hat er getönt: „Ich fahre bis ans Ende der Welt. Ich kennkeine Grenzen.“ Erst an dieser Grenze angekommen werden die Fischer den Motor abstellen und warten, bis die Nacht hereinbricht. Sie präparieren Fangleinen mit Sardinenködern und stabilisierenden Plastikflaschen. Bolivar blickt ins letzte Licht dieses Tages und kneift die Augen zusammen. Dann zieht er seine Mütze über die Augen, nickt sanft ein, begibt sich wieder in die Welt seiner Träume: bis der Dahindösende im flüchtigen Schlaf ein unheilvolles Geräusch gewahrt, den vorhergesagten, rasenden Sturm.

„Wie er aus einem dunklen Tunnel bricht und in ein anderes Dunkel fährt, wahrer als ein Traum. Er schiebt die Mütze von den Augen, schaut dahin, wo der Mond sein müsste. Das Meer wogt in die falsche Richtung. Das ist unwirklich, denkt er. Ich fasse es nicht. Der Sturm ist in einem Wimpernschlag gekommen. Er versucht, das erhellte Ziffernblatt seiner Uhr zu sehen. Ein Brüllen, dann kracht eine Welle gegen das Boot. Das Wasser leitet jäh Kälte in die Knochen. Bolivar beugt sich aus dem Hieb, wischt sich Salzwasser aus den Augen. Hector erwacht schreiend.“

Alles über Bord

Der Sturm erfasst die Fischer. Die See tost. Schnell dringt Wasser ein. Höher und mächtiger werden die Wellen. Brachialer Donner kracht über ihren Köpfen. Bolivar und Hector müsse in Windeseile agieren, das Wasser aus dem Boot schöpfen: „alles an Deck fängt nun an zu rutschen – die Reste der Angelleine, ihre Taschen, die Eimer und Messer“. Dann fällt das Funkgerät aus. Der Motor versagt. „Bolivar packt das Starterseil und zieht. Zieht und zieht erneut. Doch der Motorblock bleibt stumm.“ Damit ist klar, dass diese Fischer aus eigener Kraft nicht mehr an Land zurückkommen können. Bolivar und Hector sind nun, auf hoher See, in Gottes Hand. Sie können lediglich abwarten, in banger Hoffnung, Bolivar redet noch einmal seinem Gefährten zu, versucht, ihn zu beruhigen.

„Es gibt ein Verfahren, ein Protokoll, Regeln, die befolgt werden müssen, die Küstenwache fährt raus, das Flugzeug fliegt los, wie oft hast du das schon gesehen? Arturos Leute, die lassen alles stehen und liegen und suchen weiter. Hab ich selbst schon gemacht. Viele, viele Male.“ Die beiden Männer können nach dem Sturm wenig tun. „So vieles ist verloren. Die Benzinkanister, die Plastiktüten mit Essen und Kleidung. Die Leinen, die Ballast gaben, vom Boot gerissen. Bolivar zählt acht Schwimmer, in denen man Wasser sammeln kann.“ Sie müssen abwarten, zwischen Hoffen und Bangen Ausschau halten nach einem Flugzeug, den Rettungsbooten. Schweigend sitzen sie in der Sonne, bis der Polarstern aufsteigt, eine neue Nacht anbricht. Die Schiffbrüchigen suchen im Kühlkasten Schutz, kauern dicht an dicht.

„Hector weigert sich, mit Bolivar zu sprechen. Stattdessen fleht er Gott in dringlichem Geflüster an. Immer wieder ruckt er herum, sein Leib dreht sich hierhin und dorthin, die Knie zappelig unterm Kinn. Er versucht, sich an einer unerreichbaren Stelle zu kratzen; Bolivar drückt gegen ihn, stupst ihn mit dem Ellbogen, brummt Flüche vor sich hin. Im Geist trinkt er ein Bier. Er lässt sich das Malz über die Zunge laufen, redet, an die Bar gelehnt, mit Angel, der ihm lachend zuhört.“

Die Reise als Parabel

Bolivar bleibt verführbar von phantastischen Welten, in die er sich so lang verkrochen hat, offen für Visionen und Rettungsphantasien, während sein tiefgläubiger Begleiter der ernsten Lage offenen Auges begegnet – und sich standhaft zeigt wie der ebenfalls Hektor genannte Heerführer Trojas in der „Ilias“ von Homer. Auf hoher See wird Paul Lynchs Novelle zum Kammerspiel über zwei Menschen auf engstem Raum, die derselben Extremsituation ausgesetzt sind, aber auf je verschiedene Weise der drohenden Vernichtung begegnen.

Deutlich wird, dass diese Reise als mehrdeutige Parabel angelegt ist, als Sinnbild des Lebenswegs, als Versuch über die Absurdität unserer Existenz, als Gewissensprüfung und als Meditation über das Gemeinwesen an sich: Wie wichtig – so eine im Hintergrund immer mitlaufende Frage – sind stabile Bindungen? Bolivar trauert um seine Tochter, zu er keinen Kontakt mehr hat, aus reinster Fahrlässigkeit, während sich Hector nach seiner Geliebten sehnt, nach Lucrezia, bei der er fürchtet, sie wendete sich von ihm, dem gewiss längst Totgeglaubten ab. Doch Hector wird noch einmal von seinem älteren Fahrensmann getröstet.

„Eins sag ich dir, für viele, viele ist das eine große Sache, dass du raus aufs Meer gespült worden bist. In meinem Fall wird das nicht so viele kümmern. Aber für dich, das kann ich dir sagen, da beten deine Leute noch wochenlang für dich. Das wird nie aufhören. Es wird novenas und endlose Besuche geben, und auch sie wird dabei sein und beten. Sie wird jeden Abend vor ihrem Bett knien und mit gefalteten Händen Gott anflehen. Sie wird sich wünschen, sie hätte das alles mit dir gemacht. Sie wird Gott um Erlaubnis bitten, das alles tun zu dürfen, wenn du zurückkehrst. Und wenn sie dir Unrecht getan hat, wird sie in Schuld versinken.“

Das ist unsere Strafe

Schuld ist das große Thema dieser Novelle, die sich deutlich unterscheidet von den zuvor auf Deutsch erschienenen Romanen „Grace“ und „Das Lied des Propheten“, die sprachlich unkonzentriert waren, während diese Geschichte ihre literarische Spannkraft behält, nicht ausfranst, sondern mit Bedacht ganz nah an seine Figuren rückt. Über die Schuld wollen sie das Unverfügbare, Sinnlose in den Griff bekommen. Wie bei einer teilnehmenden Beobachtung folgt der Text forschenden Blicks den Wandlungen dieser Lebensreise, weitet aber jederzeit den Horizont über das real Gegebene hinaus, sodass dieses kleine Boot ebenso als Charons Barke erscheint, die zwei verlorene Seelen zur anderen Seite des Hades übersetzt: ins „Jenseits“ der See. „Weißt du, Bolivar, das ist weder Himmel noch Hölle. Das ist unsere Strafe. Wir sind ausgestoßen. Wir haben Gott aus den Augen verloren. Jetzt lernen wir, was es in Wahrheit bedeutet, ihn nicht zu sehen. Nicht sehen. Nie sehen. Nie sehen werden. Vielleicht immer nicht. Das ist die wahre Abwesenheit. Sie muss als Leid erfahren werden.“

Und diese beiden Menschen leiden. Kurzzeitig stillen sie ihren Durst mit Salzwasser, bis endlich der Regen einsetzt. Sie trinken Vogelblut und schlitzen Schildkröten auf. Sie frieren in eiskalten Nächten, werden von mysteriösen Ghulen heimgesucht, sie überstehen eher knapp eine gefährliche Lebensmittelvergiftung. Sie versuchen, wie Gefangene in Einzelhaft, die Tage zu zählen, die Wochen und Monate – während Jets den Himmel durchmessen und am Horizont Containerschiffe vorbeifahren, aber dennoch keine Rettung naht.

Ihre Reise verzettelt sich, wird strukturlos wie der Text, der auf sprachlicher Ebene zwischen Gedankenströmen und tagebuchartigen Beobachtungen schwankt, die Zeit ins schier Endlose dehnt, bis plötzlich ein einzelnes Wort auf der fast leeren Seite hervorsticht: „Sturm“. Während Bolivar den Realitätsgrund unter sich irgendwann doch wieder spürt, aus seinem Traum zu erwachen scheint, schwächelt der Jüngere. Hector gewahrt, dass er seine Kraft und Standfestigkeit, dass er seinen Glauben und somit den eigenen Verstand verliert.

„Immerzu hab ich den gleichen Traum. Ich träum, ich bin im Boot. Und dann wach ich auf und seh, dass ich immer noch im Boot bin. Wenn das passiert, krieg ich keine Luft. Ich steh auf und lauf auf dem Boot rum, bis ich wieder Luft kriege. Manchmal hab ich auch denselben Traum, kann aber nicht aufwachen. Im Traum packt mich dann die große Panik davor, dass ich aufwache. Im Traum weiß ich, wenn ich wach bin, ist alles gut. Manchmal kann ich an was denken, das mich weckt. Aber wenn ich dann wach bin, seh ich, dass ich immer noch auf dem Boot bin und dass ich in einen anderen Traum aufwache, der derselbe ist wie vorher. Und da kriege ich dann richtig Panik. Dann wach ich auf, weiß aber nicht mehr, was real ist. Ich glaub, ich hab schon solche Filme gesehen. Da gibt’s kein Entrinnen.“

Kaum etwas ist erfunden

Dieser Schiffbruch hat tatsächlich stattgefunden. Am 17. November 2012 stachen Salvador Alvarenga und der 20-Jährige Ezequiel Córdoba vom mexikanischen Fischerdorf Costa Azul aus in den Pazifischen Ozean. Wie im Buch von Paul Lynch, so war auch an jenem unheilvollen Tag ein Sturm angekündigt. Salvador und Ezequiel hatten wie Bolivar Rinderleber als Proviant eingepackt. Auch sie gerieten in stärkstes Unwetter. Das GPS ebenfalls fiel aus. Ihr Boot trieb 438 Tage auf dem Meer und legte eine Strecke von 10.000 Kilometern zurück. Die totgeglaubten Seemänner ernährten sich wie im Buch von rohem Fisch, von Vogelblut und Quallen. Nur Salvador Alvara sollte nach über 14 Monaten auf den Marshallinseln stranden. Sein Begleiter war angeblich verhungert – und der so wundersam Gerettete sollte noch lang verdächtigt werden, er habe Ezequiel Córdoba schlichtweg aufgegessen.

„Ich will nur mein einfaches Leben zurück. Ein Häuschen. Eine Familie. Ein kleines Geschäft, Werkzeugverkauf oder so. Nur zur See fahren werde ich nie mehr.“ Das sagte der gerettete Salvador Alvarenga 2015 in einem Interview mit dem Hamburger Wochenmagazin „Stern“. Die Überschneidungen mit Lynchs Erzählung gehen noch weiter, selbst die Entfremdung zwischen Bolivar und seiner Tochter gleicht den privatpersönlichen Verhältnissen des realen Fischers.

Mit dem Panga zum Exzess

Doch hat der irische Schriftsteller diesen Schiffbruch und seine Hintergründe ausreichend verfremdet ­– wie Joseph Conrad seine Erfahrungen als Handelsschiffsoffizier im belgisch kolonisierten Kongo mythologisch überhöhte in „Herz der Finsternis“, dieser unheimlichen Erzählung, die ein dreiviertel Jahrhundert später die Vorlage bilden sollte für Francis Ford Coppolas Vietnamkriegsfilm „Apocalypse Now“. Auf das Buch und den Blockbuster bezieht sich Lynch nicht nur im Aufbau, sondern auch in Details seiner Geschichte, die beispielsweise mehrfach jenen Bootstyp betont, mit dem Bolivar und Hector über den Ozean treiben, ein sogenanntes „Panga“, deutlich dem Patrouillenschiff gleichend, mit dem die US-amerikanischen Filmsoldaten den fiktiven Nung River hinabfahren und dem Wahnsinn anheimfallen. Am Ende von „Apocalypse Now“, dieser Höllenreise, wird der irre gewordene Colonel Kurtz enthauptet: mit einer ebenfalls „Panga“ genannten Dschungelmachete, Zeichen einer Verrohung, eines durch den Krieg überhaupt erst möglich gemachten Exzesses. Am Ende von Paul Lynchs Roman ist Bolivar allein auf See.

„Die Tage vergehen, er schläft jetzt mehr bei Tag. Er erblickt sein Double im Traum, öfter aber kann er nicht er werden, denn das Double entgleitet ihm. Das Wasser geht zur Neige, und er behält jeden Tropfen in den Rinnen seines Mundes. Tagelang zieht er mit den Augen am Himmel, zieht daran, als entrollte er eine riesige Rolle, entrollt sie, bis er Regen findet. Er stellt sich vor, wie er groß genug wird, um am Himmel zu zerren, ihn mit den Händen in Fetzen zu reißen, sodass das Gefüge der Welt zerfällt.“ Was bleibt, wenn alles zerfällt? „Du bist Fischer“, sagt Bolivar zu Beginn seiner Reise, „ich bin doch bloß ein Fischer“, bekennt er in den folgenden Monaten immer wieder, bis er sich selbst anklagt: „Du hättest nie geboren werden dürfen. Nicht mal als Fischer bist du gut genug.“

Im Rousseau’schen Naturzustand

Paul Lynchs Historienroman „Grace“ setzte ein junges Mädchen in der irischen Hungersnot des Winters 1845 aus – und „Das Lied des Propheten“ konfrontierte seine Figuren mit staatlicher Willkür. Am Ende des Booker-Prize-Romans stehen Flüchtlinge an der Küstenlinie, eine Mutter ruft: „Zum Meer, wir müssen zum Meer, das Meer ist Leben.“ In „Jenseits der See“ ist das Meer keine Metapher für das Leben, sondern dem entgegengesetzt ein Sinnbild des Todes. Es steht nicht für eine Rettung, sondern für eine Gefahr. Dennoch eint alle drei Bücher die Ausgesetztheit ihrer Helden, die stets auf sich selbst zurückgeworfen werden – während gefährlicher Reisen, die immer von der Landschaft weg ins Innere führen.

Aus der Zivilisation entlassen finden sie sich in einen Rousseau’schen Naturzustand zurückversetzt. Und so kann man behaupten, dass Paul Lynchs Literatur grundsätzlich in Anlehnung an Rousseau danach fragt, wie uns Selbstliebe auf der einen, Mitleid auf der anderen Seite determinieren; was also bleibt, wenn beinahe alles verlorengegangen ist. Ob das Leben nun Tod oder der Tod das Leben ist, beantwortet Paul Lynchs „Jenseits der See“ nicht. Das müssen die Leserinnen und Leser für sich selbst entscheiden, so wie Bolivar, der selbst nach anderthalbjährigem Radikalexil an seiner ursprünglichen Identität festhalten wird. Er bekennt mit letzter Kraft: „Ich bin bloß ein Fischer.“ Mehr nicht – aber auch: keinesfalls weniger.

Paul Lynch: „Jenseits der See“, aus dem Englischen von Eike Schönfeld, Klett-Cotta, Stuttgart, 192 Seiten, 22 Euro

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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