Flieh’ again, mein Freund!

Der große Schriftsteller Ralf Rothmann, Wilhelm-Raabe-Literaturpreisträger von 2004, kehrt mit seinem „Museum der Einsamkeit“ zu seinen Ursprüngen zurück, in die Zechensiedlungen der 1960er und 70er Jahre – und er berichtet, leider misslungen, aus dem Innenleben eines weinerlichen KZ-Kommandanten.

Die Würde des Menschen mag unantastbar sein. Diese Würde zu behalten, stellt uns gesellschaftlich, aber auch je persönlich vor eine herkulische Aufgabe. Nach den individuellen Möglichkeiten eines würdevollen Lebens fragt der Schriftsteller Ralf Rothmann seit jeher. Er belässt diese Würde im Ruhrgebietsroman „Milch und Kohle“ einem unbarmherzig gezüchtigten Jungen – und in „Flieh, mein Freund“ auch dem schüchternen Hilfsarbeiter Louis mit dem Silberblick, der vor der Trostlosigkeit der „halbtoten Zechensiedlung“ flieht – ausgerechnet in die Kirche, in den sakralen Raum, wo er fasziniert ist vom rotgoldenen Hochamt „voller Kerzen, Blumen und Gesang“, das ihn glauben lässt, das Schöne und das Göttliche seien ein und dasselbe.

„Deswegen habe ich auch einen Heidenrespekt davor. Ich meine jetzt das Weiblich-Schöne, das uns hinanzieht und so. Das macht mich vollkommen fertig. Manchmal denke ich, die Silhouette einer Frau ist schon ihr Heiligenschein.“ Dieser am Weiblichen und am Schönen gleichzeitig verzweifelnde Louis ist kein sich selbst entwürdigender Incel, sondern wird in Rothmanns „Flieh, mein Freund!“ stattdessen als Grübelnder gezeichnet, als tapferer Leonard-Cohen-Typus. Kennzeichnend für Louis ist jener von Cohen beschriebener Riss, durch den das Licht eindringt.

Ein universelles Gefühl

Rothmann verrät seine Figuren nicht, denn mit mildem Augenmerk auf diesen Riss wendet seine Literatur den Blick hin zu den schwer Arbeitenden, den Ausgegrenzten und Gebeutelten unserer Gesellschaft. So fragt auch der neue Erzählungsband, „was es braucht, um Würde zu finden“, angelehnt an eine vorangestellte Textzeile aus Bob Dylans „Dignity“-Song. „Sometimes I wonder what it’s gonna take / to find dignity“

Diese große Frage nach dem Ringen um Würde umkreist Rothmann in neun Erzählungen, die gemeinsam ein „Museum der Einsamkeit“ bilden, so der Titel, der ein wenig kitschig klingt und offensichtlich inspiriert ist von Werken anderer Schriftsteller, die auf je unterschiedliche Weise dieses „universelle Gefühl“ (Janosch Schobin) poetisieren; von Paul Austers „Die Empfindung der Einsamkeit“ bis zu Benedict Wells’ „Vom Ende der Einsamkeit“. Bestseller! Steht Rothmanns „Museum der Einsamkeit“ ein ähnlicher Erfolg bevor?

Ein Riss durch alles

In den neun Geschichten werden gewöhnliche Menschen in ungewöhnlichen Krisen vorgestellt: darunter ein geschundener Organist – Wiedergänger des mythologischen Marsyas, ebenso eine hilflose Witwe fernab des verlorengegangenen Eigenheims. Ein Riss geht durch einen arroganten Ex-Manager, der durch einen Schicksalsschlag jäh erschüttert wird. Ein Riss geht auch durch einen alkoholkranken Pfarrer und, in der Portalgeschichte, durch jenen Maurer-Lehrling, der in den 1970er Jahren auf einer Schul-Baustelle im Ruhrgebiet schuftet.

„Obschon die meisten Architekten Formsteine aus der Fabrik verplanten, mauerte man hier noch Konvexbögen oder komplizierte Kaminverbände mit Ziegeln im Normalformat. Obwohl man inzwischen alle Gewölbe, sofern sie nicht gleich aus dem Betonwerk kamen, mit Blechen oder biegbaren Sperrholzplatten einschalte, nagelte man die Hohlformen hier noch aus konischen Leisten zusammen, Zentimeter für Zentimeter, tagelang. Und auch wenn es kaum mehr Dächer mit Dachreitern oder Fledermausgauben gab, wurden sie in Wildruff gezimmert und verschindelt wie vor hundert Jahren.“

Vorm Heiland kniend

In dieser und in einer kurz darauffolgenden Geschichte aus dem Zechenmilieu kehrt Rothmann zu seiner zweiten Schaffensperiode zwischen 1991 und 2004 zurück, die mit den Romanen „Stier“, „Milch und Kohle“, „Wäldernacht“ und „Junges Licht“ unerreichbar geblieben ist. Auf seinem künstlerischen Weg wurde Rothmanns Literatur stetig religiöser. So tragen die Geschichten des neuen Bandes nicht nur Titel wie „Engel auf Krücken“ oder „Psalm und Asche“. Es läuten zudem Kirchen- und Wandlungsglocken. Die Lehr-Baustelle ist auf dem Gelände eines alten Klosters eingerichtet. Eine Figur begehrt Absolution für ihre jugendlichen Sündentaten. Die zahlreichen Stein- und Fensterkreuze, ja selbst ein Kreuz-As verweisen auf biblische Motive und die neutestamentarische Jesus-Passion.

Stimmungsvoll amalgieren in den Erzählungen noch einmal religiöse Andeutungen, eine für Rothmanns Literatur typische soziolektal gefärbte Figurensprache, die nachgerade anrührende Vergöttlichung einer jungen Frau und einige bereits früher beschriebene Eigenarten, wie jene Marotte des Lehrlings „Socke“, der Blockbuster und Siebziger-Jahre-Erotikstreifen bei gemeinsamen Filmabenden mit witzigen Geräuschen unterlegt:

„Wenn es dramatisch wurde, schrammelte er auf seiner Ukulele wie auf einem Gemüsehobel herum, bei Regen oder hohem Seegang zog er an der Klospülung, drehte ein paar Duschen auf und schrie wie ein Pirat gegen den Orkan an, das Klacken von Pferdehufen stellte er mit zwei Zahnputzbechern auf den Kacheln her, und auch das Stöhnen der Mädchen in den Aufklärungsfilmen kriegte er hin, als würde er es täglich hören, wobei er den Höhepunkt des Mannes oft mit einem Grunzen unterlegte, das an einen Keiler denken ließ.“

Schreiben kann er eigentlich

Der Hobby-Geräuschemacher „Socke“ wird hier zum Wiedergänger jenes leidenschaftlichen Comic-Lesers, der in Rothmanns „Flieh, mein Freund!“ Zigarettenrauchern Feuer anbietet und dazu das Fauchen eines Flammenwerfers imitiert oder das Weinausschenken mit einem fröhlichen „Gluck-gluck-gluck!“ synchronisiert. Kurzum, in der Lehrbaustellen-Story und in jener anderen, die einen parentifizierten Knirps im Ruhrgebiet der 1960er vorstellt, neigt sich Rothmann zur sprudelnden Quelle seiner biographischen und poetischen Existenz, und man wünscht sich sehnsüchtig, er hätte diese Geschichten zu eigenständigen Romanen ausgearbeitet.

Denn schreiben, das wissen seine zahlreichen Fans, schreiben kann dieser Mann. Nur erstarrt sein bemerkenswerter Schwung früherer Jahre in einer gesucht wirkenden, unpassend elaborierten, oft auch ermüdenden Diktion, in einer Literatur-Literatur-Sprache. Deshalb fällt sein „Museum der Einsamkeit“ trotz zahlreicher motivischer Verknüpfungen auseinander; und wird hinabgezogen von jener abschließenden Story, die überschrieben ist mit dem bereits zitierten „Psalm und Asche“-Titel, der funktionalisiert wird für die kaum aushaltbare 31-seitige Apologie eines nationalsozialistischen Täters, der larmoyant behauptet:

„[I]ch bin ein Verwaltungsmann; es ging mir um reibungslose Abläufe. Und hat nicht später sogar der niederländische Staatsanwalt gesagt, dass das gesamte Gewicht für alles Schreckliche, das die Deutschen den Juden angetan haben, nicht allein mir auferlegt werden dürfe? Bitteschön! Ich hätte mich immer korrekt benommen. Viel genutzt hat mir seine Milde allerdings nicht, die nasskalten Jahre in der Haft und im Bergwerk waren ein Alptraum, und als ich 1951 nach Düsseldorf zurückkam, wollte mich keiner mehr kennen, auch meine Töchter nicht.“

Hier spricht – sich selbst und die Banalität des Bösen noch einmal in aller Selbstgerechtigkeit bloßstellend – SS-Obersturmführer Albert Konrad Gemmeker, der tatsächlich gelebt hat und von 1942-1945 Kommandant des Durchgangslagers Westerbork in den deutsch besetzten Niederlanden war. Der Todesstrafe nach Weltkriegsende entkam er aufgrund seiner Beteuerung, er habe von der nationalsozialistischen Massenvernichtung keinerlei Kenntnis gehabt. Zudem wurde strafmildernd seine vermeintlich „korrekte“ Behandlung der ihm zugewiesenen Häftlinge angerechnet, ungeachtet der Tatsache, dass er 80.000 Menschen von Westerbork aus in die Vernichtungslager transportieren ließ.

Literarischer Holokitsch

In Rothmanns Geschichte geriert sich der Verbrecher als Opfer, da er Anfang der 1950er Jahre aus der Haft verletzt heimkehren musste, aber noch Jahrzehnte später auf seine Entschädigung wartete. Raumgreifend salbadert der Schlächter über seine humanistischen Werte, pocht auf die eigene Fein- und Kunstsinnigkeit, ebenso auf sein vermeintliches Maßhalten bei der Leitung des KZ-Sammellagers.

„Und dann war da zum Beispiel noch dieses Frühchen, dessen Mutter verschwunden blieb, vielleicht versehentlich deportiert, und dem keiner eine Chance gegeben hatte, nicht einmal Dr. Spanier. Aber ich ließ damals sogar einen Inkubator aus Rotterdam bringen, in Friedenszeiten unbezahlbar, und obwohl meine schneidige Elisabeth mich belächelte, sah ich wochenlang jeden Tag nach dem Kind; man hat ja auch einen sportlichen Ehrgeiz. Erst als es sechs Pfund wog und ab und zu die Augen öffnen und sogar lächeln konnte, habe ich es auf den Transport gegeben.“

Dem Jammergesang dieses Monster gegengeschnitten sind kursiv gesetzte Passagen über die deportierte Jüdin Esther, genannt Etty, die selbst im KZ ihre Würde und Hoffnung bewahrt, gar in den Gesichtern ihrer Schlächter Spuren von Milde halluziniert – eigentlich eine Viktor-Frankl-Figur, doch in Rothmanns Geschichte wird diese faszinierende Person zur reine Funktionsträgerin degradiert. Darüber hinaus ist die Konstruktion von „Psalm und Asche“ – man kann es nicht anders sagen – plumper „Holokitsch“ und erinnert an den Film „Werk ohne Autor“, an Florian Henckel von Donnersmarcks musikalisch untermalten Kameraschwenk in eine Gaskammer.

Rothmanns pathetische Kontrastdramaturgie beweist erneut, dass „gut gemeint“ nahezu immer das Gegenteil ist von: „gut gemacht“. Diese abschließende Geschichte Ralf Rothmanns zitiert an einer Stelle Gemmekers Vater, einen Steinmetz, der überzeugt war, dass „ein gedankenloser Schlag in eine Quarzader etwa, ein ganzes Monument ruinieren kann“. Rothmanns Story ruiniert zwar nicht per se die vorausgegangenen acht Stücke. Aber sie schwächt den gesamten Band, der eingangs fragte, „was es braucht, um Würde zu finden“ – und dann selbst, auf Teufel komm raus, keinen würdevollen, ja wenigstens angemessenen Abschluss finden kann.

Ralf Rothmann: „Museum der Einsamkeit“, Suhrkamp, Berlin, 268 Seiten, 25 Euro

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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