Finger weg von meiner Paranoia

Nach 280 Seiten Hinterhofpunks, Kneipenliteraten und Schrottkunstfreaks denkt Frank Lehmann über seine neue Wahlheimat Berlin: „Wird Zeit, dass ich rauskomme aus der Touristenscheiße hier.“ „Der kleine Bruder“ spielt im Jahr 1980. Dennoch passt dieser Satz genauso gut ins Hauptstadt-Jahr 2008. Bestsellerautor Sven Regener hat seine Berlin-Hommage als große Beschwerdetour inszeniert.

Sven Regeners dritter Roman beginnt in absoluter Düsternis: „Irgendwann war es so dunkel, dass Wolli schwieg.“ Dafür endet er strahlend hell, in einer „Luft, die nicht mehr so kalt und scharf war, sondern mild und so feucht, dass jedes der vielen Lichter eigene kleine Auren hatte.“ Auf dem schillernden Weg, aus dem Dunkel heraus, ins Licht, aus dem Schweigen ins absurd verästelte Kneipen-Vernissage-Alternativ-Palaver, wird der Neuankömmling Frank Lehmann nach allen Regeln der Kunst abgezockt, geleimt, verführt, verschaukelt, getäuscht. Er wird sein Geld verlieren, als Bierverkäufer ausgenutzt und von Menschen angepöbelt die sich „P.Immel“ nennen. Dass sich dabei nicht jeder seinen Vornamen merken kann, ist für Kumpel Karl frecherweise halb so wild, und bringt das Fass zum Überlaufen: „Hauptsache Lehmann, Freddie oder Frank, was macht das schon…“

Erstens macht das bei einem sprachgewitzten Besserwisser wie Frank Lehmann eine Menge. Außerdem ist Freddie der große Bruder, und der Grund für Franks Stress, der Anlass für diesen Roman, schuld am ganzen Quatsch, der in den kommenden Tagen passieren wird. Denn Frank ist im 80er-Jahre-Moloch West-Berlin verschollen, hat seine Hausbesetzerfreunde sitzen lassen, die ArschArt-Galerie versetzt, wo er eigentlich seine Schrott-Kunst abliefern sollte und so weiter, uns so fort. Seinen Gläubigern mag egal sein, von welchem Lehmann sie die Kohle kriegen. Für Frank sieht die Sache selbstverständlich anders aus. Er muss handeln. – Wer den Mann kennt, der weiß: Handeln ist nicht direkt sein Ding.

Auf den ersten Seiten fährt Frank mit seinem dauerquatschenden Kumpel Wolli nach (West-)Berlin, durch das „dunkle Dunkel der Transitstrecke“, im gemächlichen, handlungsarmen 100Km/h-Kriechtempo. Nach seinem fingierten, im „Neue Vahr Süd“-Roman von 2004 geschilderten Selbstmordversuch, ist er dem Bundeswehrdrill entkommen. Der Fahnenflüchtige gelangt aber nicht in die Freiheit, sondern vom Regen in die Traufe und fühlt sich erstmal zermürbt von „Wollis Gelaber“.

Er denkt genervt an Millionenerbin Patty Hearst, die 1974 freiwillig der Symbionese Liberation Army beitrat – nachdem sie von der maoistisch inspirierten Guerillagruppe entführt worden war. Herr Lehmann fühlt sich in Geiselhaft genommen. Und genauso geht es dem Leser, von Anfang an. Dieser Roman nimmt einen in Geiselhaft, stundenlang, bis zur letzten Seite, bis die Lichter leuchten, bis sich das Foyer geleert, die Geschichte beruhigt hat und endlich alle beisammen sind.

Karl, Freddie, Erwin, die West-Mama am Telefon, die Helden aus dem ersten „Herr Lehmann“-Roman von 2001, tauchen für Frank zum ersten, für die Leser allerdings zum zweiten Mal auf. Denn „Mein kleiner Bruder“ ist das Mittelstück einer Trilogie, die im ersten Roman mit dem Fall der Berliner Mauer endet und im zweiten vor dem aktuellen Plot einsetzt. Dank seines Helden Frank Lehmann begann für Sven Regener, den umjubelten Sänger von „Element of Crime“ eine zweite Karriere als Erzähler: „Herr Lehmann“ wurde 2003 verflmt, von Regisseur Leander Haußmann, mit Christian Ulmen in der Hauptrolle.

Es folgten Übersetzungen in 16 Sprachen, ein glänzend verkaufter Teil zwei, abfeiernde Rezensionen, Vergleiche mit Thomas Bernhard, einem der bedeutendsten Schriftsteller der 20. Jahrhunderts, sogar das „Literarische Quartett“ war begeistert von den beiden Herren, von Sven Regener und seinem Helden. Der „Herr Lehmann“-Abend im Frühjahr 2008, bei der lit.Cologne, war selbstverständlich ausverkauft und laut Sven Regener „der Start ins Frank-Lehmann-Jahr.“ Große Klappe, dachte man da, aber der Mann hat recht behalten. „Der kleine Bruder“ steht auf Platz 2 der Spiegel-Bestsellerliste, direkt hinter Charlotte Roches‘ „Feuchtgebiete“, vor dem neuen Buch von Siegfried Lenz, vor „Die Box“ von Nobelpreisträger Günther Grass, vor Ken Follett und Cecelia Ahern. Zurecht.

Die Geschichte von Franks Ankunft in der großen Stadt, seiner Suche nach Freddie und der nervenaufreibenden Szene-Odyssee durch Kneipen, Clubs und Kunstkaschemmen ist Unterhaltung – und gute Literatur. Nebenbei erklärt Sven Regener allen Skeptikern, warum er diese Trilogie schreiben musste: „Einer mußte es ja machen. Und einer, der das Ding auch tragen konnte.“ Das bezieht sich in der Geschichte zwar auf Wolli, seine Tuba und leitet über zu der Erkenntnis: „In Berlin wohnen ist wie Tubaspielen: Hauptsache, du pupst ordentlich rum.“ Damit ist es auch der passende Kommentar zu allen Kritiken, die in „Herr Lehmann“ ungerechtfertigterweise ein einziges Gequatsche sehen wollten. „Einer mußte es ja machen“, den Wenderoman schreiben, nachdem Grass und Kollegen gescheitert waren (und bevor Ingo Schulze mit „Neue Leben“, Thomas Brussig mit „Wie es leuchtet“ kam).

„Der kleine Bruder“ ist doppelsinnig, mit Anspielungen auf das weitere (Künstler-)Leben Sven Regeners gespickt. „Was“, denkt Herr Lehmann beispielsweise, „ist schon gegen ein bisschen Paranoia einzuwenden, sie schärft vielleicht sogar die Sinne, so eine Paranoia.“ Und wer dort angelangt ist, auf Seite 111, kann Lied sechs des „Element of Crime“-Albums „Mittelpunkt der Welt“ anwählen. „Finger weg von meiner Paranoia“ heißt es und dann weiter: „Sie war mir immer lieb und teuer, nie ließ sie mich kalt im Stich wie du. Einer hält den Spaten und zwei schauen ihm beim Halten zu.“ In den Liedern kommen Sven Regeners Stimme und Texte zusammen, als Ereignis. Wie im Hörbuch, das zeitgleich mit dem Roman veröffentlicht wurde, fabelhaft gelesen: Selbstverständlich von Sven Regener, ungekürzt, deshalb fünf Stunden und 24 Minuten lang – viel zu kurz.

(Sven Regener: „Der kleine Bruder“, Eichborn, 290, Seiten, 19,95 Euro. Das Hörbuch ist bei Roof Music erschienen, 5 CDs, 324 Minuten)

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