Ausnahmslos tierisch war der Juni – mit einem vegetarischen Fuchs, den flirtenden Colugos, einer Wühlmaus, die zur Flugpionierin avanciert, und mit einem braven Bären, der Schwierigkeiten hat, seine Grenzen aufzuzeigen.
Nach „Geniale Ohren“ und „Geniale Nasen“ war absehbar, dass Lena Anlauf und Vitali Konstantinov die Reihe um „Geniale Augen“ erweitern würden. Deutlich haben sie in der Öffentlichkeit mit ihrer Reihe abgeräumt, darunter den „Three x Three International Illustration Award“ (2023) und die Aufnahme in „Die Schönsten Deutschen Bücher 2024“. Jetzt gibt es erneut Staunenswertes: Riesenaugen hat der Koloss-Kalmar (sie sind basketballgroß), während die Facettenaugen der Großen Königslibelle aus bis zu 30.000 Einzeläuglein bestehen. Wir lernen kennen: die Colugos (Gleitfliegler aus dem tropischen Regenwald), die sich manchmal bis zu eine Stunde tief in die Augen blicken (so finden sich neue Paare). Nachtaffen leben in der Dunkelheit, sie gehören zu den Monochromaten und können lediglich Grautöne wahrnehmen. „Den Urutau-Tagschläfer findet man in Mittel- und Südamerika. Tagsüber tarnt er sich als Baumstumpf, indem er sich auf einem solchen niederlässt, seinen Schnabel emporreckt und bewegungslos dasitzt.“
Eulen und Adler dürfen nicht fehlen (letztere können viel mehr Einzelbilder als wir wahrnehmen: „So behalten sie selbst im Sturzflug noch alles ganz genau im Blick.“) Nach einzelnen Portraits sind einige Doppelseiten lustigen Eigenarten gewidmet: dem Augenschmuck (des rotschenkligen Kleideraffens, auch Make-up monkey genannt, der schuppenwimprigen Greifschwanz-Lanzenotter, des Rotgesicht-Hornraben mit den Federwimpern). Wir lernen unterschiedliche Tränen kennen: „Krokodilstränen werden vergossen, wenn die Tiere beim Essen ihr Maul weit aufsperren: Dadurch entsteht Druck auf eine Drüse hinterm Auge, was den Tränenfluss auslöst“ – und natürlich gibt’s Stielaugen: „Statt zu kämpfen, vergleichen männliche Stielaugenfliegen ihren Augenabstand: Je länger die Augenstiele, desto beliebter sind die bei den Weibchen.“ Kommt mit umfangreichem Glossar und gut sortierten Quellenangaben. Nicht nur für Brillenträger und Glubschaugen lesenswert. Lena Anlauf (Text), Vitali Konstantinov Illustration): „Geniale Augen“, NordSüd, 64 Seiten, 25 Euro, ab 5 Jahre
Dass sich dieser Bär nicht abgrenzen kann, sondern am liebsten mit seiner Umwelt verschmelzen würde, sieht man auf dem ersten Blick. Der selbstunsichere, zottelige Fellriese ist konturlos gezeichnet. Unschuldig grinsend sitzt er, einen orangefarbenen Luftballon zwischen den Tatzen, auf einer Bank, inmitten der impressionistisch hingetupften Blumenwiese. Er denkt: „Ich liebe es, ein Bär zu sein. Ich liebe meinen Keks. Ich liebe mein Buch. Ich liebe meinen Ballon. Und ich sitze liebend gern alleine auf meiner Bank.“ Zahlreiche Tiere kommen des Wegs: Fuchs, Wolf, Kaninchen, Elch („Bär hat Elch immer schon gemocht“), auch Elefant gesellt sich zu der lustigen Runde. Sie alle begehren nicht nur Gesellschaft, sondern auch die Habseligkeiten des Bären, der zwar stets denkt „Oh weh“, aber zu gutmütig ist, um einen der Wünsche abzuwehren. Am Ende reagiert er wie so viele, die kein Stopp! setzen können. Ein Bilderbuch über die Gemeinschaft und das Teilen, auf einer noch höheren Ebene auch über die Notwendigkeit, ein Selbst zu haben – also mit beinahe Kierkegaard’scher Reflexionsebene. Natalia Shaloshvili: „Bär“, aus dem Englischen von Ebi Naumann, Thienemann, 40 Seiten, 15 Euro, ab 4 Jahre
Illustrator Torben Kuhlmann ist 2014 bekanntgeworden mit seiner (in mehr als 30 Sprachen übersetzten) Geschichte über den Flugzeugpionier Charles Lindbergh – die er vom Menschen- ins Mäuseuniversum verlegte. Nach „Armstrong“, „Edison“ und „Einstein“ steht nun die amerikanische Pilotin und Frauenrechtlerin Amelia Earhart (*1897) im Mittelpunkt der fantastischen Story. Sie ist in der Art von Cinemascope-Filmstills lichtkünstlerisch komponiert. Erneut erlebt eine kleine Wühlmaus ähnliches wie der titelgebende Mensch, auf die sowohl animalische als auch auf die kindliche Lebenswelt übertragen. Vorbild Amelia Earhart rebellierte bereits in Jugendjahren gegen klassische Rollenverständnisse. Sie trug lieber Hosen als Röcke und sie las Abenteuergeschichten. Der Besuch einer Flugschau weckte 1920 ihren Traum vom Fliegen. Mit 28 unterschiedlichen Berufen erarbeitete Earhart das Geld für ihre Pilotenlizenz. Elf Jahre später flog sie als erste Pilotin nonstop in ihrer roten Lockheed Vega 5B über den Atlantik. 1937 wollte sie die Erde umrunden, doch nach ungefähr drei Viertel der Strecke verschwand ihr Flugzeug unter bis heute ungeklärten Umständen. Die Insel, auf der sie eigentlich zwischenlanden wollte, war auf den damaligen Karten falsch verzeichnet worden. Torben Kuhlmann: „Earhart. Der abenteuerliche Flug einer Wühlmaus um die Welt“, NordSüd-Verlag, 128 Seiten, 24 Euro, das Hörbuch von Bastian Pastewka (der alle Rollen liest) ist erschienen bei derHörverlag
Ein sich selbst als „aktivistisch“ bezeichnendes Bilderbuch wird hier angekündigt. Das kann ja heiter werden: wird es auch. Diese Veröffentlichung der chilenischen Autorin Sol Undurraga stellt einen ulkigen Fuchs mit Namen „Schnitzel“ vor, der sich strikt vegetarisch ernährt, und deshalb grübelt: „Warum sehen mich die Kaninchen alle so an? Ich weiß nicht, wie ich ihnen klarmachen soll, dass ich kein Kaninchenfresser bin.“ Man muss das nicht gleich transsexuell lesen, nur weil dieses wie mit Buntstiften gezeichnete Raubtier glaubt, es steckte im falschen Körper – aber weil der Aktivismus der Autorin am Ende des Buchs ausdrücklich apostrophiert wird, ist jede Interpretation möglich. Schnitzel geht auf Wanderschaft. Von den flüsternden Kaninchen hat er abgelauscht: „Die besten Partys würden im Tal der Vegetarier gefeiert. Und nichts auf der Welt liebte diese Fuchs mehr als Bücher, Wassermelonen und Partys.“ Doch am Festivalort angekommen, glaubt Schnitzel, dass er niemals eingelassen würde – er fühlt sich also wie jene Spießer, die während ihres Berlin-Wochenendtrips erkennen, dass sie keinesfalls am Türsteher des Berghains vorbeikommen werden. Freakig muss das Outfit sein, weshalb Schnitzel keine „kinky“, jedoch eine woke-vegetarische Verkleidung bastelt: den Melonenhelm. Erinnert an Janosch: Erwachsene erkennen in diesen Bildern mehr als unschuldige Kinder (hoffentlich). Sol Undurraga: „Schnitzel, der Fuchs“, aus dem Lateinamerikanischen von Bettina Obrecht, Kunstanstifter, 48 Seiten, 22 Euro, ab 5 Jahre