Wir kommen in Spätsommerstimmung mit einem kleinen Mädchen, das Wundersames nach einer Blinddarm-OP erfährt, mit einem T-Rex in den Banlieues, einer eigensinnigen Giraffe, der künstlerischsten Spinne seit langer Zeit – und einem Kinderbuch über einen der umkämpftesten Begriffe dieser Gegenwart: die Freiheit
Das Unglück des einen ist manchmal das Glück der anderen – ohne jede Schadenfreude. Im Sommer des Jahres 1938 machte der österreichisch-amerikanische Autor und Comiczeichner Ludwig Bemelmans Urlaub an der französischen Atlantikküste. Dort wurde er vom einzigen Auto der Gegend angefahren. Sein Krankenzimmer teilte er mit einem kleinen Mädchen, das ihn beeindruckte, weil sie keinesfalls weinerlich, sondern stolz von ihrer Blinddarm-OP erzählte. Da beschloss Bemelmans, ein Buch über eben dieses Mädchen zu schreiben. Seine Geschichte über „Madeleine“ erschien ein Jahr später im „LIFE Magazine“ und im renommierten New Yorker Verlag Simon & Schuster. „Die Kleinste von allen, / das war Madlen. / Vor Mäusen erschreckte sie sich nie, / Schnee, Eis und Kälte liebte sie.“ Erzählt wird in gereimten Versen von zwölf kleinen Mädchen, die in kirchlicher Obhut leben – wie sie dort gelandet sind, erfährt man nicht. Madlen ist tapfer und fängt doch eines nachts an zu weinen. Sie muss ins Spital gefahren, der Blinddarm operiert werden. „Schon zwei Stunden später erwachte die Kranke, / im Zimmer stand eine Rosenranke / Bald aß und trank Madlen schon wieder, / mit der Kurbel am Bett ging es auf und nieder. / Und manchmal schien in den Deckenritzen / ein kleines Kaninchen festzusitzen.“ Die elf anderen Mädchen statten ihrer Freundin wenig später einen Besuch ab – und sind vom Krankenzimmer derart fasziniert, dass sie sich nun wünschen, bei Madlen zu liegen. Sie fingieren in der darauffolgenden Nacht ein schweres Leiden. „Die Mädchen weinten, sie weinten, oje: / ‚Wir wollen jetzt auch eine Blinddarm-OP!’“

Mit einfachem Strich zeichnet Bemelmans seine so niedlich endende Story. Er macht es gekonnt – naiv zu zeichnen ist schwer – woran einst auch Picasso erinnerte, als er angab, er habe bereits als Kind wie Raffael malen können, doch ein ganzes Leben gebraucht, um wieder zu malen wie ein Kind. So erscheinen auch Bemelsmans Zeichnungen wie hingekritzelt, erhalten erst dadurch ihre Dynamik. „Eine Zeichnung muss so auf dem Papier landen, als hätte man Schlagsahne auf einen Teller geklatscht“ Mit diesem Satz wird Ludwig Bemelmans im Nachwort zitiert, das unter anderem erläutert, weshalb die Neu-Übersetzung Nadia Buddes näher als andere an die Erstausgabe heranrückt. Interessant ist das ebenfalls im Nachwort referierte Leben dieses österreichisch-amerikanischen, stets klammen Autors, der aus Geldgründen die Originalzeichnungen eines neuen Buchs meist umgehend verkaufte. In Ermangelung aller Originalblätter wurden für die aktuelle Ausgabe die weltweit jeweils beste Reproduktion herangezogen. Die fünfteilige „Madlen“-Reihe verkaufte weltweit etwa 15 Millionen Exemplare. Nur in Deutschland blieb der große Erfolg aus, was sich nun ändern könnte mit dieser bibliophilen Ausgabe des gerade einmal vier Jahre jungen Köln-Ehrenfelder Péridot-Verlags. Ludwig Bemelmans: „Madlen“, übersetzt von Nadia Budde, Péridot, 52 Seiten, 16 Euro, ab 3 Jahre

Sybille Hein war 2024 mit ihrem Buch „Freiheit“ in der medialen Öffentlichkeit – nun schaut sie auf die Angst, eine Grundemotion, die seit Søren Kierkegaard und Martin Heidegger auf besondere Weise beobachtet wird. In diesem eher sachlich bebilderten Kinderbuch erscheint die Angst als „Furcht“. Vorgestellt werden drei Familien aus Schlotterbacken, Angstbeuteln, Hosenscheißern und Hosenscheißerinnen“.. Onkel Baran pinkelt sich ein, wenn er einen Zahnarzttermin hat. Neles Tante fürchtet sich vor Freitagen, Kaffeetassen und schwarzen Katzen. „Adams Opa hat Angst vor Haaren. Oder vor Frauen? Ganz sicher sind wir uns nicht.“ Die Kinder starten eine Konfrontationstherapie, denn sie glauben, „die Angst trickst man nur aus, wenn man ihr ganz dicht auf die Pelle rückt.“ Selbstverständlich geht diese Bande etwas rabiater vor als ein studierter Verhaltenstherapeut, doch soll dieses Buch zuvörderst Mut machen. Es schließt deshalb mit diesem zwar zweifelhaften, aber für junge Leser stärkenden Zitat von Ingmar Bergmann: „Es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.“ Sybille Hein: „Große sind Schisser“, Hanser, 48 Seiten, 16 Euro, ab 4 Jahre

Illustratorin Tini Malina, ein großer Fan von Fledermäusen, widmet sich nun einem anderen, mythologisch oft überhöhten Tier: der Spinne. „Selma hat tausend Brüder und Schwestern und Tanten und Onkel und unzählige Vettern und Cousinen. Jedes Jahr spinnen Selmas Verwandte Tausende ausgezeichneter Netze. Jedes dieser Netze ist sorgfältig geplant und gesponnen, sodass darin die saftigsten Fliegen gefangen werden.“ Dass Selma ein wenig aus der Reihe tanzt, wird sofort deutlich. Sie trägt eine rote Baskenmütze, denn sie ist Künstlerin. Ihre Netze unterscheiden sich von der Architektur ihrer Artgenossen: „Einmal spann sie ein Netz, das aussah wie der Regen.“ Als Selma, Ikarus gleich, auf horizontale Wanderschaft geht, um das höchste je gesehene Netz zu spinnen, wird sie zwar nicht verbrennen, aber auch mit Weisheit, mit Erfahrungswissen konfrontiert: „Nur die Spinne, die riskiert, zu weit zu spinnen, kann herausfinden, wie weit sie spinnen kann.“ Selma wird es weit bringen. So viel darf verraten werden – und dass dieses Buch mit einem Trick kommt, den wir aus dem Kasperletheater kennen. In diesem August ausgezeichnet mit dem Luchs-Preis. Tini Malina: „Selma, du machst das falsch“, NordSüd, 48 Seiten, 18 Euro, ab 4 Jahre

Man kennt das Sprichwort über jene Träumer, die mit ihrem Kopf in den Wolken stecken. Der Brite Kes Gray, laut The Independent einer der zehn wichtigsten Kinderbuchautoren Englands, hat aus diesem Bild ein smartes Bilderbuch ersonnen, das nicht im Überhochkantformat gebunden ist, noch weiter nach oben ausgeklappt werden kann, um die ellenlange Giraffe Tilli vorzustellen, die mit der außergewöhnlich kleinen Giraffe Lilli „einen außergewöhnlich langen Spaziergang“ macht. Was der Knirps auf Bodennähe entdeckt, kann Tilli nicht sehen, weil ihr Kopf in eine „außergewöhnlich niedrige“ Wolke geraten ist. Lilli tröstet: „Keine Sorge (…) Die Wolke wird irgendwann von selbst wieder verschwinden. Und bis es so weit ist, gehe ich voraus.“ Ist dieses Buch für Kleinkinder eine erste Heranführung an Depression, also ein Stück, das neben „Mein schwarzer Hund“ des Australiers Matthew Johnstone gelegt werden kann? Wie ein Blindenführer hilft die gutgelaunte Lilli ihrer Begleiterin (wir nehmen einfach mal an, es seien Mädchen) über „außergewöhnlich faule“ Löwen, durch ein Labyrinth aus „außergewöhnlich stacheligen Sträuchern“, an einem Flamingo-Tanzkurs vorbei, Tilli frohgemut nehmend, wie Tilli eben ist. Ein Buch, das möglicherweise vom Ernsten berichtet, aber heiter-kauzig daherkommt: very british. Kes Gray (Text), Chris Jevons (Illustration): „Tilli & Lilli und die Sache mit der Wolke“, aus dem Englischen von Maria Höck, Thienemann, 13 Seiten, 24 Euro, ab 3 Jahre

„Dies ist die Geschichte von der kleinen Edith und ihrem Vater Bashi. Hör gut zu und nimm den Finger aus der Nase, wenn wir dir jetzt von den beiden erzähle.“ Die französische Schauspielerin Julie Douine und die Illustratorin Noémi Favart treten zum ersten Mal mit einer deutschen Übersetzung auf. Sie stellen den sympathischen Geschichtenerzähler Bashir und seine kleine, „Grashüpfer“ genannte Tochter Edith vor. Mit großer Phantasie verwandelt Bashir die triste Hochhaussiedlung in ein Abenteuerterrain: „Er zeigt zum Beispiel auf einen Parkplatz und erklärt: ‚Vor genau 503 Jahren hat hier in der Heide eine Wolfsfamilie Rast gemacht’“. An einer Mülltonne bleibt er stehen und behauptet: „Hier hat an einem Donnerstag um 14:34 Uhr vor genau 67 Millionen Jahren eine Saurier-Dame ihre nächste Mahlzeit beschnuppert.“ Solcherart angeregt wagt Edith nun ihrerseits den Blick in die Zukunft – und entwirft mit großem Möglichkeitssinn eine Siedlung, die kreativ lebenswert gestaltet ist. Sie zeigt, dass es nicht nur Phantasie braucht, sondern ebenso schöpferischen Mut und resiliente Tatkraft – im besten Falle außerdem: einen Zedernsamen. Julie Douine (Text) Noémi Favart (Illustration): „Hier kommt ein T-Rex vor“, aus dem Französischen von Anja Kootz, Aladin, 40 Seiten, 16 Euro, ab 5 Jahre
