Der Bachmann-Blog 2025

In dreißig Minuten Stunde geht’s los mit den Lesungen in Klagenfurt, dann werden die 49. Tage der deutschsprachigen Literatur heißlaufen – bei bereits jetzt 32 Grad Schattenhitze. Wie immer findet alles statt im kleinen Rund des ORF-Theaters. Der berühmteste Lese-Wettbewerb im deutschsprachigen Raum präsentiert heuer Texte, deren Autorinnen und Autoren, im Anschluss jeder Lesung wird diskutiert – mitzuerleben über 3sat und Dlf „Dokumente und Debatten“ Einigermaßen kühlen Kopfes sitze ich bereits im Garten des ORF und werde von hier nach jeder Lesung etwas schreiben. Wir sehen uns am See. Einen Ausblick gibt es hier, eine Kritik der gestrigen Rede zur Literatur hier.

Ohne echten Plot, eher als Recherchesammlung erscheinen Verena Stauffers „Die Jäger von Chitwan“. Die österreichische Lyrikerin, in diesem Jahr ist sie bereits im Deutschlandfunk-Lyrikgespräch aufgetaucht mit der kiny „Kiki Beach“-Sammlung, jetzt kam die Prosa. Sie reist nach Nepal, wo Hunde von Tigern gerissen werden, die Grenzen aufgelöst werden zwischen (Raub-)Tieren und (Raub-)Menschen. Eröffnend ist ein Frühstückskellner der „Tiger Tops Jungle Lodge“ unbeherrscht gegenüber einer jungen Frau: „Er verfolgt sich bis vor ihr Zimmer, er schreibt ihr auf Insta, er redet davon, mit ihr nach Europa zu wollen“. So beginnt die ausufernde Text-Collage, die von kriegerischen Auseinandersetzungen berichtet, sich erstaunt zeigt, ob der: „Tierjagd. Menschenjagd. Stimmenjagd. Jagd auf die Demokratie, Jagd auf die Religion. Jagd auf Rohstoffe. Jagd auf Erdgas, Erdöl. Jagd auf Wasser. Jagd auf Süßwasser. Jagd auf Kristalle. Jagd auf seltene Erden. Jagd auf Silicium. Jagd auf Wasser, Tropft irgendwo Wasser. Dort wo kein Regen mehr fällt.“ Eine Weltkrisen-Schau, die wichtig, aber literarisch unentschlossen wirkt: „Der Kellner der Tiger Tops Jungle Lodge reist dem Mädchen bis nach Kathmandu nach. Wie ein Gespenst sieht sie ihn, wann immer sie sich umdreht, um eine Ecke lugen, sich hinter einem Gemüsestand verstecken und als sie im Flugzeug sitzt, abhebt und nach unten schaut, glaubt sie, ihn am Dach des Flughafengebäudes zu sehen (…) die Tiger reißen Menschen. Jedes Jahr sterben der Sammler viele.“ Philipp Tingler ist ratlos und fragt in die Runde: „Worum geht es im Text?“ Das aber konnte die Jury bis zum Ende ihrer Diskussion: kaum erhellen.

Anfang dieses Jahres erhielt Regisseurin Laura Laabs den „Preis der Filmkritik“ beim Saarbrücker „Filmfestival Max Ophüls Preis“ für ihr Spielfilmdebüt „Rote Sterne überm Feld“ – eine experimentelle Auseinandersetzung über eine fiktive linke Aktionsgruppe, in dem sich Postkommunismus, Performance und Poststrukturalismus die Hand geben: Eine Aktivistin versteckt sich in ihrer Heimat, und trifft im mecklenburgischen Bad Kleinen Neonazis, Ostalgiker, Till Lindemann als Erlkönig, Windkraftgegner, Opfer der LPG-Abwicklungen, Mythen über den fatalen GSG-9-Einsatz in Bad Kleinen, bei dem RAF-Terrorist Wolfang Grams erschossen wurde. Über allem: der lange, dräuende Schatten des Zweiten Weltkriegs. Die Autorin selbst hat einen ostdeutschen „Kulturbürgerbackround“ (O-Ton im Porträtfilm), als Tochter der DDR-Künstler Daniela Dahn und Joochen (tatsächlich mit zwei „O“) Laabs, als Enkeltochter des Stasi-IM und Journalisten Karl-Heinz Gerstner, als Urenkelin des NS-Kriegsverbrechers Karl Ritter. Im Herbst dieses Jahres erscheint ihr Debüt „Adlergestell“, trotz ihrer Aussage: „Nichts braucht die Welt weniger als noch ’nen Text von mir“. In Klagenfurt gibt es einen ebenfalls mit „Adlergestell“ übertitelten Nebentext über den Herbst 1990, als Laabs eingeschult wurde und sich zugleich erster Widerstand im Adlergestell formierte, der längsten Straße Berlins im Bezirk Treptow-Köpenick, wo die Geschichte als Trümmerhaufen beschaut werden kann, und das Gelände des Wachregiments „Feliks Dzierzynski“ liegt, des militärischen Stasi-Arms. Ein Aufstand formiert sich: „Ich spürte ein Prickeln in meinem Kopf, das in alle Nervenbahnen schoss. Das war keine Angst. Das war eine Lust. IM NAMEN EURER VEREINTEN KRÄFTE! Vielleicht waren wir ja doch wer.“ Am Ende landet die querfrontpolitisierte Heldin in einem unguten Hufeisen zwischen AfD, Pegida oder BSW. Coming of Age trifft Aktionismus. Mithu Sanyal fühlt sich „umgehauen“, Thomas Strässle hingegen ist der Werdegang der Figur „zu einfach“, er habe „selten einen Text gelesen, der sich am Ende so sehr ins eigene Knie schießt.“ In der anschließenden Diskussion sich Laura Laabs immer wieder charmant ein und bietet Philipp Tingler abschließend an: „Wir können uns auch mal privat treffen.“ Eine Autorin ist hiermit gesetzt, das Debüt erscheint am 16. August.

Vor der Mittagspause trat einer der wenigen Männer dieses überwiegend weiblich besetzten Bachmann-Bewerbs an: Max Höfler aus Graz, einer Stadt, die schon lange für avantgardistisches Schreiben steht, für Sprachlust und –spiel. „Hallo, Freunde! Ich hier, ihr dort!“ So meldet sich im „Lambada Tutto Gas“-Text immer wieder ein TikToker bei seinen Followern: „Und darum gehört es höchstwahrscheinlich auch dazu, hier zu danken. Zu danken, dass ihr mir hier in diesem Kanal eure Augengucker, eure Ohrenwaschl schenkt, eure sicher sehr wertvolle Lebenszeit spendiert. Denn nichts ist teurer als eure teure Lebenszeit, die dann einfach vorbei ist, wenn es aus ist.“ Eine rasante, gleichzeitig mit zahlreichen Versprechen hingestolperte Performance, in der aller Inhalt wurscht erscheint, wenn Höflers Held über Natursekt und zerbrochene Müslischüsseln palavert, sich harsche Kommentare einhandelt: „Alter, was für ein Drama! Du redest über eine Schüssel, als ob das Schicksal der Welt daran hängt. Wie viel Zeit hast du mit deinem Gedöns verschwendet?“ Eben diese Kommentare hat Höfler nicht selbst geschrieben, jedenfalls nicht im konventionellen Sinne, das verrät der Abschluss: „Die kursiven Teile dieses Textes wurden von ChatGPT geschrieben. Prompt: ‚Schreibe eine kurze uns sehr hitzig geführte YouTube-Kommentardebatte zu folgendem Text: ‚Hallo, Freunde! Ich hier…‘“ Die Debatte, in welcher Weise auch ein Prompt Schöpfungshöhe besitzt, drängt sich unweigerlich auf. Dazwischen gab’s 110 Jahre alte Bildtafeln („es war die bisher entzückendste Form, Bilder einzubauen“, bemerkte Mithu Sanyal), die Fotos anthropomorphisierter Katzen zeigen aus „The Little Folks of Animal Land“ des US-amerikanischen Künstlers Harry Whittier Frees. Sie sind das Beste an diesem Text, der sich allerhand Zeugs kulturell aneignet, wie der Autor selbst mit seinen lustigen Dreads. Zum Text: „Das wird’s wahrscheinlich nicht mehr lange geben, das ist eine bedrohte Form – über diesem ganzen Ansatz liegt eine gewisse Melancholie, eine sanfte Tragik“, schließt Philipp Tingler treffend und versöhnlich: „ich fand das ganz sympathisch.“ Großer Abschlussapplaus.

Zentaur: Der Pferdmensch aus der griechischen Mythologie ist Sinnbild des Übergangs in Nefeli Kavouras’ Geschichte, die mit einem Ende eröffnet – und einem ziemlich guten ersten Satz: „Die Beerdigungsgäste sind gegangen, und wir wissen nicht, was wir mit den Kuchenresten anfangen sollen.“ Wie ein Zentaur erschien auch Georg – der Gatte von Ruth und Vater von Lea. Er liegt auf der Palliativstation, halb Mensch, halb Tier, nicht mehr so ganz von dieser Welt: „Aus seinem Körper ragen Schläuche hervor, mein Mann ist ein Oktopus.“ Das Leben der Angehörigen muss weitergehen, ihr Alltag wird unterbrochen von Besuchen am Sterbebett, im Hintergrund erlebt die Tochter eine erste große Liebe. „Ich küsse Max zum ersten Mal und denke dabei an Papa und daran, dass Papa stirbt, und mein Mund wird trocken. Und ich hoffe, ich küsse gut.“ Nefeli Kavouras erzählt in knappen Abschnitten von der Sehnsucht nach Normalität, nach Kontrolle: „Und aus dem Sterbezimmer ertönt ganz hörbar ein Wiehern.“ Möglich, insbesondere nach dieser Jurydiskussion“ dass der Zentaur am Sonntagnachmittag mit einem Klagenfurt-Preis Richtung Hamburg zurückfliegt. Thomas Strässle sieht bemerkenswerter Weise die „Experimentalanordnung“ dieser eigentlich konventionellen Geschichte. Er sei „einer der besten und interessantesten Texte der letzten Jahre – Gratulation“ sagte Klaus Kastberger, „mindblowing“ der Erkenntnisgewinn für Laura de Weck „dass wir alle sterben, und das nicht unbedingt schön“ (sie hat Kavouras eingeladen), während Mara Delius feststellt: „auf der sprachlichen Ebene passiert zwischen Mutter und Tochter gar nicht so viel. Ich hätte mir mehr Tonveränderung gewünscht.“

„Die Madonna in den Trümmern“, das erste architektonische Werk Gottfried Böhms, gibt Fatima Khans in Köln spielender Geschichte Titel und Struktur. Das sakrale Bauwerk wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Bombenschutt gesetzt. Dort, wo es einst dröhnte, ist ein Andachtsraum entstanden. Man schaut in der einstigen Pfarrkirche „St. Kolumba“ (erstmals 980 n.Chr. erwähnt) – zu ihr gehört diese Kapelle – tief hinein in die komplexe Geschichte der über 2000 Jahre alten Domstadt. Fatima Khans Figur schreibt in Köln einen Brief an Abba (bengalisch für „Vater“) – an jenen muslimisch tiefgläubigen Mann, der seine Familie einst aus der Heimat an den Rhein geholt, sich dort aber verloren hat. Fatima Khan, das verrät ihr Bachmann-Film, ist interessiert an „der Architektur einer Stadt“ und an „der Architektur von Familie und Beziehungen“. Ihr Brief literarisiert mäandernd die Erosion zwischenmenschlicher Beziehungen: wie der Vater Körper und Geist seiner Tochter niederbrannte („Deine Sprache, dein Satzbau, deine Schläge sind in mich und meinen Körper eingemeißelt“) – und wie die Tochter, dem entgegengesetzt, später aus den Körper-Trümmern aufsteigt: als Künstlerin. „Ich will einen Text wie St Kolumba in dem die alten Teile eingearbeitet sind und die neuen auch an manchen Stellen scheint das Licht rein manche Stellen sind dunkel andere schnell Madonna in den Trümmern ein Text wie ein Tremor in dem nur die Außenmauern stehen ein Text der eine Narbe ist“). In diesem Narbentext verschränkt Khan das Bild der deutschen Märchenstraße und der Brüder-Grimm-Geschichten mit der deutschen Gewalthistorie, mit dem Kolonialismus, dem Zweiten Weltkrieg, den Morden des NSU, der in Köln oft zu beantwortenden Frage folgend, „wie Gebäude Traumata konservieren.“ Text als Brutalismus, eine Betonkathedrale: „Ich habe mehr Probleme als Gefallen an diesem Text“, sagt Juryvorsitzender Klaus Kastberger und bezeichnet diese auch über das Schreiben nachdenkende Geschichte als „Reiseführerprosa“, dass man dergleichen bereits „hundertmal gelesen“ hat, bemerkt Mara Delius. Dass Mithu Sanyal dann auch noch den Text zu retten sucht, indem sie selbst liest: Anstrengend.

 

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

Empfohlene Artikel