Das Lyrikgespräch im Juni

Angezündete Igel bei Samuel Kramer, Melodien, die sich über die Lyrik legen bei Herbert Grönemeyer – in den Büchermarkt-Bänden des Monats Juni, heute ab 16:10 Uhr mit meinen Gästen Alexandru Bulucz und Christian Metz. Als Bonus: Curt Bloch, über den wir bereits Anfang dieses Monats in einer kompletten Sendung gesprochen haben.

„It’s raining men! Hallelujah!“ Wenn „endlich regen“ einsetzt, sprießt die Savanne, ein überfluteter Topos zahlreicher Naturdokus. Überhaupt, der Regen: Es gibt etliche „finally rain“-Memes, mit dem Regen lässt sich poetisch umgehen. Man erinnert Wolfgang Borchert: „Stell dich mitten in den Regen / Glaub an seinen Tropfen Segen / Spinn dich in das Rauschen ein / Und versuche gut zu sein“. Mit den vollkommen anderen Zeilen: „Berichte entfesselten Wetters warten auf Freigabe. / Ländereien auf Bewohnbarkeitsupdates. Es gibt hier / keine Verbindungen. Versuchen wir es später“, schließt der kleine Lyrikband des 1996 geborenen Samuel Kramer – Philosoph*in, Autor*in, Künstler*in“ (laut eigener Homepage). Wer angestellt ist an einer philosophischen Fakultät (in dem Falle zu Köln), kennt zahlreiche Phänomene und „Buzzwords“ einer geisteswissenschaftlichen Existenz: Schopenhauers Käferkonstruktionen („Jeder dumme Junge kann einen Käfer zertreten. Aber alle Professoren der Welt können keinen herstellen.“), das „Kill your Darlings“-Phänomen (dass man aus seinen Texten jene Stellen streichen sollte, die man liebgewonnen hat), die „wölfe im metaphernpelz die mit kreidezähnen signifikanten zerreißen“ (Einführungsseminar Vilém Flusser). Mit durchaus selbstironischem Blick auf die Mehrfachexistenz als Philosoph*in, Schreibtisch- und Bühnenmensch, als Dichter*in ist Samuel Kramer bereits 2019 prominent aufgetaucht im non-binären Poetry-Slam-Reader „Fantastische Queerwesen: und wie sie sich finden“, und daran anschließend blickt dieses fluide Akademielyrik-Debüt in den poetisch-akademischen Maschinenraum: „Siehst du das nicht? Exakte Ruinen, / an allen Enden verstrickte Berechnung? / Nicht: wie es taut, klumpt, brodelt, in deiner Theorie? / Deine Theorie restituiert die Unterscheidung, / die sie überwinden wollte. Deine Theorie / operiert mit einem anthropozentrischen, androzentrischen, / biozentrischen, eurozentrischen Subjektbegriff. / Im Kern wird deiner Theorie vorgeworfen: / ein Zentrum zu haben. Deine Theorie / zündet draußen im Garten die Igel an.“ Samuel Kramer: „endlich Regen“; Engeler, Schupfart, 86 Seiten, 12 Euro

Flugzeuge im Bauch

Am 8. Dezember 2022 hat Herbert Grönemeyer zusammen mit Buddy Michael Lentz in der LMU München gesprochen – und daraus diesen Text kompiliert. Nach „Lyrik Kabinett“-Gästen wie Martin Mosebach, Anja Utler, Marcel Beyer, Jan Wagner und Oswald Egger nun als Grönemeyer, der als Schauspieler bereits 1981 bekannt wurde („Das Boot“), seinen musikalischen Durchbruch wiederum 1984 hatte mit „4630 Bochum“. Die Lyrics von „Männer“ oder „Flugzeuge im Bauch“ gehören nicht nur zum Pop-, sondern auch zum Lyrikkanon. Der „Bochum“-Text („Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt“) wurde 2023 aufgenommen in „Der ewige Brunnen – Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten“. Der von seiner Mutter als „wortkarg“ charakterisierte Sänger gibt Einblick in die Entstehung seiner Songs, erzählt, wie er beim Komponieren zunächst Quatsch singt, er nennt es „Bananentexte“, dann einen „Formtext“ auf Deutsch erdenkt, um die Silben zu setzen, danach wird getüftelt. Das erinnert an The Beatles’ „Yesterday“ und die Lückenzeile: „Scrambled eggs, oh my baby how I love your legs“. Die einzelnen Antworten sind mit kurzen Überschriften versehen: „Am Klavier“ oder „Tonbeugung und das Mysterium der Kunst“, in seiner Form also an „Mix, Cuts & Scratches“ von Rainald Goetz und Westbam angelehnt. Wir erfahren viel über die Atmosphäre („das, was die Platte dann letztendlich als Geschmack hinterlässt“), Deadlines und Druck („ich brauche einen Endpunkt für die Platte, den setze ich auch radikal fest, und was bis dahin nicht da ist, ist nicht da“), über Sprachdifferenzen im Pop: „Im Englischen kann man vager bleiben und die deutsche Sprache ist sehr perkussiv, ist wesentlich mehr Stakkato, durch dieses Rattern. Die ganzen Doppelkonsonanten geben sofort einen Rhythmus.“ Grönemeyer spricht über Kalauer („Herz-Haft“), Melancholie („es kommen natürlich eigene Emotionen in den Text“) und warum er niemals nur Texte schreiben, also dichten könnte: „Ich habe den Vorteil, dass eine emotionale Musik oder eine halbwegs vernünftige Melodie den Text trägt. (…) Wenn die Musik stark ist, kann der Text sich ganz leicht drauflegen.“ Herbert Grönemeyer: „Im freien Flug“ bei der Stiftung Lyrik Kabinett München, 34 Seiten, 14 Euro

Dein Leiden teilen

„Ihr wähnt euch endgültig entflohen / Dem Schatten der Vergangenheit / Und denkt nicht daran, dass euch bedrohen / Der gleiche Schmerz, das gleiche Leid // Wenn man euch eure alten Fehler / Nun wiederum vergessen lässt, / Dann führt ein neuer Puppenspieler / Euch zu ’nem neuen Schlachtefest.“ Diese hellsehenden Zeilen schrieb ein deutscher Jude am 3. Juni 1944 aus seinem niederländischen Versteck. Sein Name, den bis vor Kurzem kaum jemand kannte: Curt Bloch, ein 1908 in Dortmund geborener Jurist. Er floh aus den nationalsozialistischen Deutschland nach Amsterdam, wo er zunächst für einen persischen Teppichhändler arbeitete, bis die deutschen Invasionen ihre Vernichtungsarbeit auch im kleineren Nachbarland verrichteten, mit erschreckendem Durchsetzungswillen. Insgesamt wurden mehr als 100.000 Juden aus den Niederlanden in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert; nur etwas mehr als 5.000 von ihnen überlebten. Bloch entkam dem KZ, indem er untertauchte und im Versteck etwas vollkommen Unglaubliches schuf: 96 bunte Magazine mit Collagen und insgesamt 492 Gedichten – sein gesamtes Werk umfasst über 1.700 Seiten, die sich in deutscher und niederländischer Sprache vor allem satirisch auseinandersetzten mit den Nazis, mit Adolf Hitler und den niederländischen Kollaborateuren. Ein Internetprojekt (curt-bloch.com) zeigt bereits die Transkripte, zahlreiche Originalseiten und stetig mehr Lesungen einzelner Gedichte, vorgetragen von deutschsprachigen Stars wie Iris Berben, Jan Böhmermann, Christian Brückner, Bjarne Mädel, Eva Mattes, Linda Zervakis usw. „Wo immer du magst auch verweilen, / Ich grüße dich, mein Schwesterlein, / Dein Leiden möcht’ ich mit dir teilen / Und würde gerne bei dir sein“, schrieb er verzweifelt – und ahnte nicht, dass sein Schwesterlein bereits von den Nazis ermordet worden war. Curt Bloch: „Das Unterwasser-Cabaret 1943-1945“, herausgegeben von Aubrey Pomerance, gestaltet von Q, Andere Bibliothek. Berlin, 380 Seiten, 28 Euro

 

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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