Das Lyrikgespräch im April

An diesem Dienstagnachmittag geht das Deutschlandfunk-Lyrikgespräch in eine neue Runde, mit teilweise veränderter Besetzung. Der überraschend frühe Tod unseres Kritikerkollegen Michael Braun war auch für Insa Wilke eine Zäsur. Mit ihm hat sie über viele Jahre die monatliche Lyriksendung gestaltet und so übergibt sie diesen liebgewonnenen Teil des Büchermarktes in treue Hände. Fortan werde ich moderieren, mit Gästen wie Beate Tröger, Alexandru Bulucz, Christian Metz, Helmut Böttiger und vielen anderen Akteurinnen und Akteuren der nachwievor lebendigen Lyrikszene.

Wir eröffnen mit zwei aktuellen Veröffentlichungen, die, wie sollte es bei aktuellen Veröffentlichungen dieser Tage auch anders sein, beide entstanden sind während der Corona-Pandemie, eben diese Zeit jedoch auf höchst unterschiedliche Weise nutzend, einmal für ein „Winterpoem 20/21“ der 1972 in Moskau geborenen Maria Stepanova, die morgen ausgezeichnet wird mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Außerdem schauen wir auf den 1964 im schönen Tirol geborenen Raoul Schrott, dessen „Inventur des Sommers“ unlängst bei Hanser erschienen ist.

„Wenn die Kälte etwas nachlässt, beginnen die Wörter zu tauen“ schreibt Maria Stepanova im Postskriptum, das sie gemeinsam mit ihrer Übersetzerin Olga Radetzkaja verfasst hat. „In diesem Buch sind gefrorene und wieder aufgetaute Worte und Stimmen zu hören…“ Glitzernd frei liegen sie und erzählen von einem beengten, von einem gefährlichen Russland. Wie in einem Schrank sind die Bürgerinnen und Bürger gefangen:

„Ungefähr so vielleicht: Statt aus dem Schrank zu kommen / Laufen die Leute in einem Schrank herum – und sind plötzlich / woanders. / Oder sie schauen nur kurz herein, / Da hören sie in ihrem Rücken den Schlüssel im Schloss / Und schon sind sie ganz woanders, / Die Füße in Hausschuhen stehen im Morgenschnee. // Oder so: Sie wussten gar nicht, dass das ein Schrank ist, / bis Die Schranktür zufiel, und langsam wurde es hell / Und sie begriffen, aha, wir sind jetzt woanders, / Und von oben stäubt Mottenpulver auf uns herab.“

Die Welten Narnias werden bei Stepanova angespielt, der Lügenbaron Münchhausen, E.T.A. Hoffmann und die russische Zarin Katharina II – über allem schwebend, mit Ovid einer der herausgehobenen Exilanten der Literaturgeschichte, berühmt geworden mit seinen „Metamorphosen“. Er wurde in den kalten Norden verbannt, dorthin, wo sogar der Wein gefror.

Raoul Schrott hat einst die Poesie gegen die Pedanterie ausspielte: „Übersetzen… heißt, diese Bilder zu sehen, bevor sie geschrieben werden, und sie dann, weil sie sich nicht mehr kopieren lassen, mit den Utensilien der eigenen Sprache freihändig nachzuzeichnen und neu zu skizzieren. Man kann ihnen dabei nur die eigene Sprache leihen, auch wenn man den Tonfall ihrer Stimmen zu skizzieren sucht.“ Mit den Utensilien der eigenen Sprache ist seine „Inventur des Sommers“ entstanden.

Er denkt nach über das Abwesende, in Stücken, die er, der gelehrige Dichter, kommentiert, beispielsweise anmerkend, dass „’gleich’ und ‚leiche’ auf dieselbe gotische bezeichnung für ‚körper’ zurückgehen, denn es ist ja so, dass eine leiche dem zuvor lebendigen körper auf dieselbe weise ähnelt, wie ‚gleich’ die ähnlichkeiten von rein äusserlichem aufzeigt.“

Erotomanisch wendet er sich auch den Musen zu, den Schützgöttinnen der Künste, die auch als Schauspielerinnen auftreten, als Cameron Diaz, als Kim Basinger. Der Tango-Komponist Carlos Gardel und die Surrealistin Leonora Carrington werden ihren Auftritt haben. Und das Abwesende ist so dann doch anwesend, versammelt zu Ehren der Schönheit: „dein hochzeitskleid das schneide / dir daraus zurecht · zeige- und mittelfinger als schere / für diese wunderbare drehung in der leere / rüschen und rauschen · dazwischen gesplissener saum / schönheit zeigt sich in unterschiedlichen posen / sie ist deine selbst wenn du sie nicht siehst / sie stellt dich in den raum
mit diesen deinen dunklen augen · unverdrossen / solange du weiterhin dem unerwarteten entgegen ziehst“

Maria Stepanova: „Winterpoem 20/21“ aus dem Russischen übersetzt von Olga Radetzkaja, Suhrkamp, 120 Seiten, 22 Euro / Raoul Schrott: „Inventur des Sommers: Über das Abwesende“, Hanser, 176 Seiten, 25 Euro

Zum Nachhören: das Lyrikgespräch mit Maria Stepanova und Raoul Schrott vom 25. April 2023

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