Völkerwanderungen, Flucht und Vertreibung gehören zu den großen Herausforderungen unserer Weltgemeinschaft. Was treffen diese Menschen in der Fremde an? Danach fragt „Heim.Statt“ von Esther Kinsky – im Lyrikgespräch des Monats April konträr gesetzt zum Schizo-Diskurs „spüren“ von Michael Stavaric. Die Gäste im Dlf Studio Köln sind Alexandru Bulucz und Christian Metz.
Esther Kinskys „Heim.Statt“ fragt, was „statt Heim“ auf einer Flucht, aber auch bei einer Auswanderung vorgefunden wird, wenn man das „niezurückland“ verlassen hat. In dieser „Landscape Fiction“ sind Gräser, Hügel, die Sonne das einzig Vertraute: „erste grenze / ist doch der schatten welcher / vorausweist derweil der glanz / der sonne im rücken steht“. In sieben Langgedichten erleben wir die biblische Vertreibung aus dem Paradies, nehmen die Balkanroute und begleiten moslemische Familien, die nach dem Fall des Osmanischen Reichs Ende des 17. Jahrhunderts slawischen Christen entfliehen. Auch die Schwestern Prokne und Philomene flüchten – und verwandeln sich. „Prokne als Nachtigall singt ewig um ihr Kind, Philomele, der die Zunge genommen wurde, hat als Schwalbe keinen Gesang.“ Philomene wurde von Tereus verstümmelt, der seine Vergewaltigung vertuschen wollte. Als alles rauskommt, brät Prokne den eigenen Sohn, reicht ihn Tereus zum Abendessen. Trotz der biblisch-mythologischen Anreicherungen werden bei Kinsky keine Fremden vorgestellt, sondern Menschen, die eine menschliche Erfahrung durchmachen. Strukturiert ist der Reigen durch Motive: die Rose, die Bienen, das mutwillige Verstummen. Zugleich werden wir selbst Ausgesetzte, oft orientierungslos, weil Phrasen in Hindi, Haitisch-Kreolisch, Mittelhochdeutsch und Altenglisch eingewoben, weil unverständliche Vogelstimmen imitiert werden: „Geh aus mein herz und suche / was das zeug hält nach dem vöglein / zimten und gelb das im hag singt / nichts weiß vom eibenbaum / kiwittnicheinkiwitt singt es / vom großen weißnichtwas / dem niemand den namen nennt“. Spannung hält „Heim.Statt“ durch die Kontrastierung von Kannitverstan auf der einen, der Sehnsucht nach dem Zurückgelassenen auf der anderen Seite. Das Cover zeigt eine kaum entzifferbare Zeichnung von Edny Whyte: die Moin-House-Ruine im schottischen Sutherland, einst letzte Zuflucht einsam Wandernder. Dieser Band weist „poza już“ – über das Jetzt hinaus. Esther Kinsky: „Heim.Statt“, Suhrkamp, 155 Seiten, 25 Euro
Und versuche, gut zu sein
Michael Stavarics Langgedicht „spüren“ wirkt aus einer sorgenloseren Zeit gefallen – insbesondere in Gegenüberstellung zu Kinskys „Heim.Statt“. Geklammert ist dieser Ich-Ich-Ich-Beobachtungstext durchs stets gleiche Empfindsamkeitsbekenntnis, das am Anfang jedes Kapitels gesetzt ist: „Ich spüre“. Man denkt an Anja Utler, die 2023 ihres Trauerrefrains mit der Mantra ähnlichen Losung „Es beginnt der Tag“ eröffnet hat. „ich spüre Regen auf der Haut / mit der Sanftheit von Planierraupen / versinke in die feuchtigkeit / ihrer räuberischen Ketten / werde aufgesaugt und zermatscht / werde deREGENerierter Brei / werde wie Erinnerung / von Schlammkäfern an abgestorbene / Laubbäume deren Knochen / als Ast- und Schlupflöcher dienen“, salbadert dieses Ich, das psychotisch Innen- und Außenwelt verbindet, sich willkürlich an Losungen der Waren- und Popkultur bedient: an ABBA („So when you′re near me, darling / Can’t you hear me, S.O.S.?“), an Resident Evil und Snoopy, an diesem alten, dank Metallica und the Weeknd weithin bekannten Gebeten: „if I should die before I wake / I pray the Lord my soul to take“, wir begegnen Kurt Schwitters, respektive Freundeskreis: „ICH HABE DADAISTISCHES VERLANGEN / (VON HINTEN WIE VON VORNE)“. Man hört das deplatzierte Anheben der Stimme, das Schreien, den Irrsinn in infantilen Neologismen: VERSspannung, RAUCHfastertapeten, transporTIEREN! Büchners „Lenz“ drängt sich auf, von schizophrenen Wahngedanken gepeinigt – während das Ich bei Stavaric (wie Lenz durchs Gebirge streifend) glaubt, es höre: „die abfälligen Kommentare der Salamander / die nach deinen Gutdünken / kalibrierten Fichtennadeln / die sich nach mir ausrichten / sobald ich den Waldrand betrete“. Dieser „Spüre es“-Ausruf ist anders als der aus Wolfgang Borchardts Stück „Draußen vor der Tür“. Die Katastrophe wird bei Stavaric lediglich halluziniert, eine Verlassene ersehnt, in Selbstmitleid gebadet: „vielleicht sterbe ich demnächst an / einem Hirnschlag und du wirst / gar nicht da sein / wirst irgendwo TOUREN / (mit deinem Streich- oder / Was-weiß-schon-ich-Quartett)“. Michael Stavaric: „spüren“, Limbus, 96 Seiten, 15 Euro