Wie kann man zum Ende des True-Crime-Booms über einen Amoklauf schreiben? Kaleb Erdmann umkreist den Mordrausch vom Erfurter Gutenberg-Gymnasium, bei dem elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler und ein Polizeibeamter starben, bevor sich der 19-jährige Täter selbst richtete.
Eine Trinkflasche, deren Öffnung groß genug ist, um – Zitat – „hineinzupissen“, das sucht dieser Ich-Erzähler, bevor er zu seiner Recherche aufbricht. Es ist sechs Uhr in der Früh. Der Mann sinniert in einem Kiosk des Frankfurter Bahnhofsviertels über das Design von Volvic Essence Minze-Gurke, Evian MIND Fresh Berry und flucht, weil der Lebensmittelkonzern Nestlé das einst beliebte – und zur Notdurft bestens geeignete Vittel vom deutschen Markt genommen hat.
„Die schweren, bauchigen, 1,5‑Liter-Flaschen von Volvic hatten früher mal einen breiten, fast abflussgroßen Hals, in den man sehr gut pissen konnte. Die französischen Flaschendesigner haben ihre Hälse dann aber sukzessive in Richtung Knopfgröße verringert, die 0,75‑Liter-Evian-Flasche wird seit einiger Zeit sogar nur noch mit Saugaufsatz verkauft, was das Reinpissen logischerweise komplett unmöglich macht.“
Die Egoshooter sind schuld
Dass der Erzähler überhaupt ein mobiles Behelfsurinal mit sich führen will, liegt an seinem gesteigerten Harndrang. Dieser ist möglicherweise mit seiner Angststörung erklärbar, die einen traumatischen Urgrund hat: Wie Autor Kaleb Erdmann, so war auch dieser Ich-Erzähler im Jahr 2002 Schüler des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums, als ein bewaffneter 19-Jähriger die Klassenräume stürmte und zahlreiche Menschen tötete. Über diese Tat will er schreiben. „Die Ausweichschule“ ist ein Roman, der von der Entstehung eines Romans erzählt, von den Recherchereisen, den Hochphasen und Zweifeln – ausgehend vom Erfurter Amoklauf.
Dieser sorgte seinerzeit für Debatten über Egoshooter-Computerspiele, die Bildungsmisere und über ein lasches Waffenrecht, das dem Täter, Mitglied eines Schützenvereins, den Kauf von gleich zwei Schusswaffen problemlos ermöglicht hatte. In Erdmanns Roman möchte der mit dem Autor spiegelverwandte Ich-Erzähler über diese Bluttat erzählen, obwohl es bereits ein umstrittenes – tatsächlich existierendes – Buch von Ines Geipel gibt, diverse Untersuchungsberichte und zahlreiche Medienbeiträge. Der Erzähler war zwar Schüler des Gymnasiums, aber doch fragt er sich, ob er „betroffen genug“ sei, um nun aus seiner radikal subjektiven Sicht zu berichten. „Ich habe im Gegensatz zu meinen Mitschülern keinen Mord und kein Blut gesehen, ich war nur anderthalb Jahre auf der Ausweichschule und bin dann weggezogen, ich bin vielleicht nicht der Richtige, um diese Geschichte zu erzählen. Ich schreibe ja nicht nur über mich selbst.“
Pitaval trifft Paludes
Die „Ausweichschule“ war einerseits jenes Gebäude, an dem die Erfurter Schülerinnen und Schüler unmittelbar nach dem Amoklauf unterrichtet wurden. Andererseits zielt der Romantitel auf sein eigenes literarisches Verfahren: Der Erzähler weicht ebenfalls aus, möchte beispielsweise den Tatort keinesfalls besuchen. Und er beschult sich selbst, möchte Kompetenz über seinen Untersuchungsgestand ansammeln. So ist dieser zum Ende des „True Crime“-Booms erscheinende Roman hochinformierte Verbrechensprosa in der französischen „Pitaval“-Tradition – der Jurist Pitaval hatte schon im 18. Jahrhundert Sammlungen von Kriminalfällen publiziert –, andererseits ein autofiktional-selbstreferentielles Spiel, durchaus an André Gides Künstlersatire „Paludes“ von 1895 erinnernd, in der ein Autor durch Paris streift und sein Umfeld mit seinem „Paludes“-Manuskript nervt.
Wie Gides fiktiver Autor, so kämpft auch Kaleb Erdmanns Ich-Erzähler mit seinem Konvolut. Er will sich in diesen hochpolitisierten Zeiten keinesfalls als literarischer Voyeur unmöglich machen. Deshalb liest er gewissenhaft den Untersuchungsbericht. Er trifft sich mit einem Bamberger Dramaturgen, der wesentlich rascher ein Stück über einen Amoklauf auf die Bühne bringt. Er sucht Anregungen bei einer Vernissage, und er hat über 40 offene Tabs auf dem Rechner, verzettelt sich also in Schleifen und Nebenhandlungen. Hinzukommend lässt er sich von seinem Verlags-Lektor demütigen, der seinerseits spekuliert, welchen literarischen Zugriff der Schriftsteller für seinen Amok-Roman wählen sollten: „Kennen Sie Joachim Meyerhoff?, fragt er. Klar, lüge ich. Dieser Joachim Meyerhoff, der ist ganz toll.“
Gigant der Autofiktion
Meyerhoff mit seinem seit 2011 laufenden Zyklus fiktional erweiterter Lebenserinnerungen ist ein Koloss der Autofiktion. Dass dieses Genre den Buchmarkt überflutet, liegt, Walter Benjamin eingedenk, daran, dass in Zeiten der elektronischen Reproduzierbarkeit und der künstlichen Intelligenz vor allem die persönliche Beglaubigung einem Text etwas Auratisches verleiht. Demgegenüber stellt Kaleb Erdmann – trotz des Sich-Aufdrängens einer autofiktionalen Verarbeitung – das Gemachte seines Kunstwerks ebenso explizit wie selbstironisch aus. Sein Erzähler ist eher Schelm denn Schmerzensmann, ein Simplicissimus, der sich tändelnd ins kriegerische Terrain begibt – und aufgeschmissen wäre ohne seine Plastikflasche, in die er sich jederzeit erleichtern kann. Der Roman im Roman scheitert übrigens. „Die Ausweichschule“ erzählt abschließend, wie der Lektor die Veröffentlichung ablehnt und die Agentin des Ich-Erzählers händeringend andere Verlage zu überzeugen sucht.
„Vor einigen Monaten habe ich dann von ihr den Anruf erhalten, den man aus Katastrophenfilmen kennt: Es tut mir sehr leid, aber die Suche wird eingestellt. Es besteht keine Hoffnung mehr, noch jemanden zu finden.“
So haben wir nur dies: den Entstehungsbericht zum nicht veröffentlichten Werk, das als überreich bezeichnet werden muss. Traumata und Mental Health, True Crime und Autofiktion, das Sprechen über Opfer und Täter, die Gewalt verzweifelter Teenager. Das hätte schiefgehen können, überladen wirken. Das Gegenteil ist geschehen, im lapidaren Ton, mit äußerst klugen Szenenwechseln, einem ganz eigentümlichen Drive. „Die Ausweichschule“ ist ein wenig Pitaval, noch mehr André Gide, lediglich zu einem Mü Joachim Meyerhoff – und in dieser Konstellation das bislang beste literarische MashUp dieses Bücherherbstes.
Kaleb Erdmann: „Die Ausweichschule“, Ullstein Park, Berlin, 304 Seiten, 22 Euro