Sie leben unverbunden von ihrer Umwelt: die Figuren im neuen Erzählungsband des Schweizer Schriftstellers Peter Stamm. Ein junger Mann bricht zur vermeintlichen Mars-Expedition auf und lebt seitdem im Keller, ein Skilehrer vereinsamt in seiner selbstgewählten Enklave und eine Managerin zieht ein Burn-Out der stillen Wohnung vor.
Seit der Corona-Pandemie wächst das Verlassenheitsgefühl. Psychologie-Professorin Maike Luhmann schätzt laut eines aktuellen Artikels in der „Apotheken Umschau“, dass fünf Prozent unserer Gesellschaft chronisch einsam ist, dass also jeder Zwanzigste keinen engen, nährenden Kontakt zur Umwelt pflegt. Diesen einsamen Menschen, den fünf Prozent unserer Gesellschaft, gibt Schriftsteller Peter Stamm eine Stimme in seinem melancholisch grundierten Erzählungsband, der „Auf ganz dünnem Eis“ – so der Titel – Figuren vorstellt, die sich zurückgezogen haben. „Im Mutterschiff ist kaum Licht, nur ein paar Standby-Leuchten brennen. Trotz des Rauschens des Ventilators scheint es totenstill zu sein.“
Still ist es häufig in diesen Geschichten Peter Stamms. Babys werden gestillt, es gibt die Windstille, die Totenstille, den stillen Protest. In der Mutterschiff-Geschichte ist Stille selbstverordnetes Schweigen. Ein junger Mann weiß, dass er keinesfalls zu jenen Simulationen der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA zugelassen wird, die auf eine Marsmission vorbereiten. So beschließt er, den gemeinsamen Keller auszubauen, um sich privat auf die von ihm ersehnte Weltraumreise vorzubereiten.
„Er würde den Fitness- und den Werkraum benötigen, vierzig Quadratmeter wie die Amerikaner. Im Werkraum gab es Wasser, und die Abwasserleitung führte dort durch. Er würde eine Toilette installieren, das würde nicht ganz einer Weltraumtoilette entsprechen, aber darum ging es ihm nicht. Am Wasserhahn würde er einen Zähler anbringen und sich an ein genaues Kontingent halten, drei Liter pro Tag für das Trinken und Kochen, vier Liter für die Körperpflege.“
Burn-Out-Parabeln
Dieser Mann verlässt freiwillig seine Eltern und schließt sich für die Dauer von sechs Monaten und 19 Tagen eine Etage tiefer ein. Man kann diese Story als Sinnbild einer Depression lesen, als eine von mehreren Burn-Out-Parabeln dieses neuen Buchs. „Auf ganz dünnem Eis“ ist der poetische Versuch, das Erzählen dem Stillstand anzunähern, bis sich die Worte und das Schweigen beinahe austauschen. Wie wenig also braucht es, um dennoch zu erzählen?
„Die erste Abfahrt mache ich immer allein. Manchmal schließe ich die Augen für einige Sekunden, und es gelingt mir fast, mir einzubilden, ich sei in den Bergen. Es ist ein schneidend kalter Morgen, die Lifte wurden eben erst angestellt, noch kaum jemand ist unterwegs.“ In der Portalgeschichte, sie trägt den Titel „Lieke schreibt“, ist ein Schweizer Skilehrer ins Ruhrgebiet geflohen. Er arbeitet mit Ausflüglern, die seine Skihalle besuchen – in der übrigen Zeit lebt er zurückgezogen in einem Monteurzimmer, geht manchmal allein ins Schwimmbad. Er besucht einen Schreibmaschinenkurs an der Volkshochschule, um gesellschaftlichen Anschluss zu finden. Es ist ein vergebliches Unterfangen. Dieser Mann hat sich aufgrund eines Unfalls, den er verursacht hat, vom angestammten Lebensumfeld separiert, sich aus freien Stücken vereinsamt. Aber er wünscht offenkundig, dass das Interesse seiner Mitwelt endlich wieder auf ihn, den Verlassenen, fällt.
Gipfelpunkt der Novellistik
Noch einmal zurück zum jungen Mann, der sich in seinem Keller eingeschlossen hat: „Er entfernt sich immer weiter von uns, hundertachtzehn Millionen Kilometer müssen es inzwischen sein, und jede Stunde werden es hunderttausend Kilometer mehr, der einsamste Mensch im Universum. Er hat versucht, mir den Weg zu erklären, in diesem dreidimensionalen System von bewegten Objekten, wir bewegen uns, er bewegt sich, die Sterne und Planeten bewegen sich umeinander. Die schnellsten Wege sind nicht immer die kürzesten, man nutzt die Anziehungskraft eines Objekts, nur um sich noch schneller und noch weiter von ihm weg zu katapultieren…“
Dieser sich gleichsam vereinsamende Mars-Dilettant nimmt eine höchst kuriose Auszeit. So viele Menschen nutzen in Peter Stamms „Auf ganz dünnem Eis“ die Anziehungskraft – nicht eines Objekts, sondern eines Menschen – um sich noch schneller und noch weiter von ihm weg zu katapultieren. Sie alle hoffen, dass jemand kommt, um sie festzuhalten, oder aus ihrer Isolation herauszureißen: der Marsreisende ebenso wie der verlorene Skilehrer, oder auch: eine Managerin, die sich beinahe totarbeitet um ihrer „stillen Wohnung“ zu entkommen. Wie wenig braucht ein Mensch, um sich wieder lebendig zu fühlen, wie wenig wiederum eine Geschichte, um sie zu erzählen? Es ist, das zeigt Peter Stamm in aller Dezenz, oft nur ein Wort, schon ist man nicht mehr allein, schon befindet man sich am Gipfelpunkt der Novellistik, in jener sauerstoffarmen Höhe, wohin nur die Besten gelangen. Auch deshalb ist dieses Buch ein leiser, umso bemerkenswerter: Triumph.
Peter Stamm: „Auf ganz dünnem Eis“, S. Fischer, Frankfurt, 194 Seiten, 24 Euro
