Rezension: Zu den Sachen

Ein typischer Party-Smalltalk in Deutschland beginnt mit der Frage: „Was machst Du beruflich?“ Während sich ein Brite aus Höflichkeitsgründen niemals nach Stand und Einkommen seines Gegenübers erkundigen würde, fallen die Schranken guten Anstands mit Überquerung des Ärmelkanals. Wer jetzt die falsche Antwort gibt, wird entweder disqualifiziert oder bis zum letzten Lied des Abends belagert.

Eine mir bekannte Jugendamtsmitarbeiterin antwortet, seitdem sie jahrelang von frustrierten, alleinerziehenden Müttern in Beschlag genommen wurde: „Ich bin bei der Stadtverwaltung.“ Bloß keine Details. Kluge Ärzte weichen ebenfalls aus. Geschichten über Rücken, Steiß und Knie sind für Mediziner nach 20 Uhr uninteressant (für alle anderen Gäste übrigens auch). Geisteswissenschaftler aber werden, nachdem sie sich zu Skandinavistik, Literatur des Mittelalters, zu Sprach-, oder Kunstgeschichte bekannt haben, oft mit der Replik konfrontiert: „Ja, kann man denn davon leben?“ – Als schaffe das alleinige Nicht-BWL-Studium einen Möglichkeitsraum für Kleiderkammer, Suppenküche, Pfandflaschensuche.

Ein gerade erschienener Sammelband beantwortet, indem er immer wieder das Gleiche fragt: „Warum noch Philosophie?“. Die darin enthaltenen „historischen, systematischen und gesellschaftlichen Positionen“ sind intellektuelle Sparrings für alle Debatten, die ein Philosophie-Studierter im Laufe seines Lebens an Kaffeetafeln, Speed-Dating-Nachmittagen und Bankberaterschreibtischen zu erdulden hat. Es diskutieren nicht nur in der Akademie philosophisch geschulte Profis wie Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer oder Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß, sondern auch Mathematiker, tatsächlich unterrichtende Pädagogen, aktive Politiker, Physiker, Musikwissenschaftler, Historiker. Dabei stellen sie sich etlichen Rechtfertigungsvolten von „Steuerzahler“, „wissenschaftlicher Öffentlichkeit“ und „sich selbst“ (Ludwig Siep im Beitrag „Warum praktische Philosophie der Neuzeit?“).

Verschiedenartig wird die im Titel aufgeführte Frage verstanden. Die Antworten fallen schon allein deshalb disparat aus. Auffällig ist: Immer wieder wird das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis verhandelt und gleichzeitig, wenn auch über andere Wege, Philosophie als genuin menschliche Tätigkeit definiert. Denn Menschen wollen wissen. Zum Beispiel: „Wie sieht ein gutes Leben aus?“ Oder auch: „Wann fängt Leben an?“ – Aktuell abzulesen an den Debatten über Präimplantationsdiagnostik und Stammzellenforschung. An den eingerichteten Ethikkommissionen, speziell dem Nationalen Ethikrat sind selbstverständlich Philosophen beteiligt. Hier werden ebenso diskutiert: Grüne Gentechnik, Atomkraft, die ethische Dimension anonymer Kindsabgabe, die Bedeutung von Freiheit im modernen Staat, oder auch die Äußerungspflicht für Organspender.

In der Schule wiederum dient Philosophie zur Entwicklung verschiedener Kompetenzen (Erkennen von Widersprüchen, Erkennen moralischer Dilemmata, Bildung sozialer und personaler Fähigkeiten), wie es Klaus Draken in seinem Beitrag „Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren“ ermittelt. Gleichzeitig kann Philosophie instrumentalisiert werden als „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, wie es 1931 der Wuppertaler Rudolf Carnap in seinem berühmten Aufsatz mit Mitteln des logischen Empirismus versucht hat. Das sind fachinterne Fragen.

Nebenbei bedient Philosophie, vornehmlich in Frankreich, auch literarisch-feuilletonistische Debatten. In Deutschland stehen Peter Sloterdijk, Dieter Thomä oder Joseph Vogl für eine Inszenierung, die im Nachbarland von Derrida und Deleuze begonnen, von Philosophie-Stars wie Bernard-Henri Lévy oder André Glucksman weitergeführt wird. Philosophie als (intellektuelles) Entertainment. In welcher Weise sich hier ein verunsichertes Bürgertum mit soft gedachten Placebos beruhigen lässt, beschreibt FAZ-Feuilletonchef Patrick Bahners übrigens treffend in seinem aktuellen Buch Die Panikmacher. Über den tatsächlichen Nutzen eines bunt mäandernden Werks des bekennenden Neo-Liberalen Peter Sloterdijk darf gestritten werden.

Allerdings zeigt Volker Gerhardt in seinem Beitrag „Die Macht liegt in der Vielfalt“, dass „die in den Feuilletons zwischen Neurobiologen und Philosophen ausgetragenen Kontroversen über Freiheit und Bewusstsein in konkreten Forschungsprojekten fortgeführt“ werden. „Auch das lange unterbrochene Gespräch mit der Psychologie ist auf der Ebene der Forschung wieder aufgenommen worden.“ – Diesen Nutzen der Philosophie hat noch 1992 der Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg in seinem Aufsatz „Gegen die Philosophie“ bestritten und sie als Bremse für die naturwissenschaftliche Forschung bezeichnet, obwohl die Philosophie als „Mutter aller Wissenschaften“ Physik oder Chemie überhaupt erst hervorgebracht hat (Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene in ihrem Beitrag „Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften“).

Bemerkenswert sind die Argumentationen des Cambridge-Professors John Marenbon, der fragt: „Why Study Medieval Philosophy?“ Warum nützen die alten Texte von Boethius, Abelard, Avicenna, Aquinas, Maimonides, Scotus, Ockham „and many others“? Wissenschaftsintern, so argumentiert Marenbon, nützt die Beschäftigung, weil gegenwärtige Philosophie mit den „alten Texten“ kommuniziert und verschiedene Aspekte „of Descartes, Leibniz and perhaps Aristotele“ aufgreift. Darin unterscheidet sich „antiquierte Philosophie“ übrigens von antiquierter Medizin, die nicht heilt oder einem antiquierten Computer, der nicht mehr funktioniert.

Ein wohlfeiles Argument, das Marenbon dagegen nicht gelten lässt, ist: Platons Der Staat oder Descartes’ Meditationen gehörten zum kulturellen Kanon und müssten deshalb ebenso rezipiert werden wie Homers Ilias oder Shakespeares King Lear. Im ästhetischen Feld sieht Marenbon nicht den Nutzen alter philosophischer Texte. Denn Philosophie als rein ästhetisches Vergnügen vergisst andere Werke, deren Fragestellungen drängender und „great or greater“ sein mögen, die aber zu komplex sind, um ästhetisch goutiert zu werden. Tatsächlich zeigen alte Texte laut Marenbom sehr deutlich, wie Philosophie funktioniert, „what sort of questions philosophical questions are, and how and to what end they can be answered“. Zudem lassen sich diese Texte nicht nur historisch lesen, sondern als „another voice in the contemporary debate“.

Wenn dann eingeworfen wird, mittelalterliche Philosophie sei eigentlich Theologie – die bereits intellektuelle Small-Talk-Fortführung der Frage „Warum noch Philosophie?“ – entgegenet Marenbon, dass mittelalterliche Philosophie sich zwar einschreibe ins religiöse Diskursfeld jener Jahrhunderte, gleichzeitig aber Thomas von Aquins Summa Theologica nicht nur religiöse Themen verhandle, sondern ebenso „philosophy of mind, individuation and identity, semantics and the virtues.“ Auge in Auge mit dem Herausforderer schließt Marenbon auf den letzten beiden Seiten mit der dialektischen Wende „Why we should not study medieval philosophy“, um den Ball zurückzuspielen an all jene, die sich generell der Spezialisierung von Geisteswissenschaftlern verschließen und das Wissenschaftssystem als solches disqualifizieren wollen.

Die Herausgeber Marcel van Ackeren und Jörn Müller weisen in ihrem Beitrag darauf hin, dass die Frage nach dem Nutzen der Philosophie selber nicht zum Kanon der philosophischen Themen gehöre und erst durch eine (philosophie-)historisch bedingte Legitimitätskrise aufgekommen sei. Dem widersprechen etliche Philosophen des Bandes. Übrigens ohne auch nur mit einem Wort zu erwähnen, dass innerhalb eines kapitalistischen Systems, das unter dem binären Code Geld/Kein-Geld seine Umwelt beobachtet, jede Leistung, die keinen Cash-Flow produzierenden Mehrwert schafft, automatisch diskreditiert wird.

Aufgabe des philosophischen Systems, determiniert durch den Code Wissen/Kein-Wissen, kann selbstverständlich nicht die Inklusion genuin kapitalistischer Beobachtungsstrukturen sein. Jedoch besteht die Möglichkeit, dass die Frage „Warum noch Philosophie?“ unter rein philosophie-systemischen Handlungsoptionen den Möglichkeitsraum dieser Disziplin erweitert. Das ist, eben weil etliche Beiträger des Bandes die Eingangsfrage als philosophische Frage verstanden haben, tatsächlich geglückt. Nach 364 Seiten gibt es mannigfaltige, auch Ökonomen die Stirn bietende Antworten auf die Frage: „Warum noch Philosophie?“ Abschließend kurz zurück zum Speed-Dating-Tisch und dem eingangs erwähnten Bankberater-Büro: Der Dispokredit wird, nach Aufzählung der vielen, höchst anregenden Argumente dieses Bandes vielleicht nicht erhöht. Aber feinsinnige BWL-Singles lassen sich dennoch becircen. Wer einige der bunten Beispiele verinnerlicht, bekommt während des leidenschaftlichen Vortrags im Dating-Café von allein leuchtende Augen. Und Begeisterung steckt an. Wäre doch schade um den guten Sex.

Marcel van Ackeren u. a. (Hg.): Warum noch Philoophie? Berlin: De Gruyter, 2011. 49,95 Euro

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2 Kommentare

  1. Lieber Peter Trawny, die Frage, ob Philosophie nützt, gehört laut den Herausgebern dieses freilich nicht mit philosophischem Eros und Pathos gesättigtem Bandes, nicht zum Kanon der Philosophie selbst – ich bin mir darin nicht einmal sicher. Aber ist es nicht auch wunderbar, dass denkende Menschen an Ihren Schlüssen beständig zweifeln, während der Zweifel der Vielen beschränkt ist auf die kurze Zeit einer so genannten Midlifecrisis? Herzlich, JD

  2. Lieber Jan Drees,

    ich ahne, dass in diesem De-Gruyter-Schinken Argumente zu finden sind, warum die Philosophie es verdient hätte, bedeutungslos zu sein. Das klingt doch alles nach akademischen Ausweichmanövern und Scheingefechten. Die Autoren haben ungefähr genauso viel philosophischen Eros wie eine Mumie.

    Herzlichst
    Peter

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