Jahrzehntelang hat Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, das Innerste erforscht: Er ist auch in seine eigenen Abgründe hinabgestiegen. Als er 1939 im unerträglichen Todeskampf dahinsiecht, entscheidet er sich für den assistierten Suizid. Eine Graphic Novel nähert sich entlang dieser Entscheidung dem komplexen, weiterhin kontrovers diskutierten Thema Sterbehilfe.
Es gibt die Kierkegaard’sche Vorstellung, ein erwachsener Mensch sollte sich bewusst sein, dass er ein Selbst hat. Er sollte seine Autonomie keineswegs verleugnen, und sich den damit einhergehenden Herausforderungen stellen. Dieser Wille zum Selbst-Bewusstsein war auch Sigmund Freud zu eigen. Er, der nicht nur die Seelen seiner Patienten zergliederte, sondern auch in die eigenen Abgründe hinabstieg, war nachgerade autonomiesüchtig.
Und er stand auf Erkenntnis. Dass Freud, wie wir alle, nicht Herr im eigenen Seelenhaus war, erschien ihm unheimlich genug – da sollte wenigstens das, worüber er verfügte, in seinen Händen liegen. Eingedenk dieser Haltung verwundert nicht, dass der Vater der Psychoanalyse 1928 seinen Leibarzt Max Schur beschwor: „Eine letzte Sache noch, und keine Kleinigkeit: Wenn es soweit ist, bitte ich Sie, mich nicht unnötig leiden zu lassen.“
Den Lastern treu geblieben
An diesen Wunsch Freuds, sein Arzt möge ihm das Sterben so leicht wie möglich machen, erinnert nun eine Graphic Novel, die auf ebenso prägnante wie einfühlsame Weise über jenen letzten autonomen Akt nachdenkt, zu dem ein Mensch am Ende seines Lebens bestenfalls fähig ist. „Freud. Wenn es so weit ist“ – so der Titel – erzählt vom langen Leiden des krebskranken Professors. Der 1856 geborene Ausnahmemediziner litt seit 1923 an einem sich stetig verschlimmernden Mundhöhlenkarzinom, einer Folge seines Tabakkonsums. An manchen Tagen soll Freud über zwanzig kubanische Zigarren geraucht haben.
„Ich bin meiner Gewohnheit oder meinem Laster treu geblieben und meine, dass ich der Zigarre eine große Steigerung meiner Arbeitsfähigkeit und eine Erleichterung meiner Selbstbeherrschung zu verdanken habe.“ – In den sechs Jahren bevor er den Mediziner Max Schur kennenlernte, hatten seine Ärzte behauptet, Freuds Leiden sei gutartig. Sie wollten den berühmten Psychoanalytiker schonen. Doch sein Krebs breitete sich aus. Während seine Mundhöhle verweste, befiel spätestens ab 1933 auch die Gesellschaft ein bösartiger Tumor, der ebenfalls wucherte.
Verjudete Pseudowissenschaft
In kluger Parallelsetzung zeigt die Graphic Novel, wie der Nationalsozialismus dereinst alle Aspekte des Alltags durchdrang und spätestens nach dem sogenannten „Anschluss’ Österreichs“ 1938 auch den jüdischen Psychoanalytiker bedrohte. Freud wurde als „Begründer einer ‚verjudeten Pseudowissenschaft’“ diffamiert. Die düstere Stimmung wird im Buch evoziert von teils schwarz grundierten, immer wieder auch in karmesinrot kolorierten Bildern. Je dunkler die Seiten, desto schwärzer die Lebensaussichten Freuds. Mehrmals suchten Nazis in dessen Wohnung und Verlag nach kompromittierenden Dokumenten, die eine Verhaftung vor der internationalen Gemeinschaft rechtfertigen würden. Seine Tochter Anna Freud wurde von der Gestapo verhaftet. Sie hatte sich kurz zuvor Veronal besorgt, ein starkes Barbiturat, das sie unter Folter sedieren würde – in gewisser Weise gleichsam ein Akt vorausschauender Autonomie.
„Am Abend kommt Anna endlich frei. Freud, eigentlich kein Freund von Gefühlsbekundungen, bricht in Tränen aus. Anna wird nie erzählen, was sie an diesem Tag durchleben musste… Professor Freud muss den Tatsachen ins Auge blicken … Sie müssen Wien schnellstmöglich verlassen.“ – Freuds Familie floh ins britische Exil, Leibarzt Schur folgte wenig später. Der Krebs kehrte massiv zurück, weitere Bestrahlungen wurden notwendig. Freud verfiel zusehens. „Seine Wange wird von Wundbrand befallen, perforiert sich, lässt den Krebs frei und verströmt einen so fauligen Geruch, dass selbst seine treue Chow-Chow Hündin Lin sich zurückzieht.“
Der letzte Autonomieakt
Suzanne Leclair, die Autorin dieser schmerzhaften Graphic Novel, ist in Montreal als Psychiaterin tätig. Seit 2016, dem Jahr, in dem in Kanada der medizinisch assistierte Suizid unter bestimmten Umständen erlaubt wurde, arbeitet sie zudem in einer Arbeits- und Forschungsgruppe zur medizinischen Sterbehilfe mit. Sie weiß also genau, mit welch einem gesellschaftlich brisanten Thema man es hier zu tun hat. Bei inzwischen mehr als vier Prozent aller Todesfälle in Kanada leisten Ärzte besagte medizinische Suizidassistenz.
Nicht nur tief berührend ist die Art und Weise, wie Leclair und ihr Zeichner William Roy diesem Phänomen begegnen – es gibt, so scheint es, auch eine professionelle Distanzierung, sodass, was hier schließlich geschildert wird, für die Leser einigermaßen erträglich bleibt. Denn Freuds Leibarzt Max Schur wird seinen Patienten – wie einst versprochen – tatsächlich mit einer Überdosis Morphium töten. Der große Psychoanalytiker stirbt am 23. September 1939 um 3 Uhr morgens – weil er in seiner beginnenden Agonie spürt, dass er schon bald das verlieren wird, was Kierkegaard als „Selbst“ bezeichnet und dem mündigen Menschen so dringend anempfohlen hat.
Suzanne Leclair (Text + Illustration), William Roy (Text + Storyboard): “Freud. Wenn es soweit ist”, aus dem Französischen von Marisa Kröpfl, bahoe, Wien, 136 Seiten, 26 Euro
