Im Ton herzkammerflimmernder Sehnsucht beschreibt Ozan Zakariya Keskinkılıç einen schwulen „Hundesohn“ – im interessantesten Prosadebüt dieses Bücherherbstes.

Junge deutsche Gegenwartsliteratur, alles schön und gut – aber international interessiert sich kein Schwein für unsere provinziellen Nabelschauen. Eine seltene Ausnahme ist die non-binäre, jüdische, in Moskau aufgewachsene Sasha Marianna Salzmann, deren Literatur absolut metropolentauglich ist. Ein ebenso großes kosmopolitisches Flair zieht durchs aufregende Romandebüt des queeren, muslimischen, zunächst ganz unspektakulär in einem hessischen Dorf aufgewachsenen Ozan Zakariya Keskinkılıç. „Hundesohn“ heißt dieses schmutzig-unterhaltsame Buch, das genderfluid und weltgewandt ist, offen und schrecklich amüsant – obwohl auf den ersten Blick kaum mehr als eine klassische Sehnsuchtsgeschichte erzählt wird.

„In neun Tagen werde ich Hassan wiedertreffen, diesen Hundesohn. Beim letzten Mal haben wir uns gegenseitig die Leberflecken gezählt, das ist ein Jahr her. Leberfleck heißt auf Türkisch ben. Es ist das gleiche Wort für ich, das fand ich schon immer geheimnisvoll. Auf Türkisch rief ich mich bei den Leberflecken auf dem hübschen Gesicht eines anderen, zwölf, dreizehn, vierzehn. Ich berührte mich auf Hassans Wangen. Ich sagte, ben buradayım ve ben oradayım, ich bin hier und ich bin dort.“

Jagen wie ein Coonhound

Zwischen hier und dort changiert diese überwiegend in Berlin spielende Geschichte des schwulen Helden Zakriya, der neun Tage lang zwischen schmachtender Melancholie und wilden Grindr-Dates titscht, um die wie gedehnt erscheinende Zeit totzuschlagen. Es sind neun Tage abzuwarten, bis er endlich seinen Augenstern wiedertrifft, Hassan, den Zakariya aus Sommerurlauben in seiner türkischen Heimat kennt. “Hassan ist wild wie ein afghanischer Windhund, er hat die Ausdauer eines sibirischen Huskys, er ist mutig wie ein Foxterrier, und jagen kann er wie ein Coonhound.”

Hassan erscheint, würde man es filmisch ausdrücken, als MacGuffin, als mehr oder weniger beliebige Person, deren Zweck allein darin besteht, die Handlung voranzutreiben. Das Herausragende dieses Romans bildet sich nicht aufgrund dieser profanen Love Story, sondern durch seine avancierte Ästhetik, die abwechslungsreiche Form und dem beinahe „sloppy“, also wie hingeworfenen wirkenden Inhalt. Gar nicht zu reden vom wilden Mix aus deutschen, französischen, englischen und türkischen Sätzen, in den sich Held Zakariya wirft.

„Auf Französisch kann ich sagen, ne pourrait-on pas considérer que l’imagination et un altruisme exacerbé sont véritablement des antidotes à la solitude? Auf Französisch bin ich ein arroganter Pariser Philosophie-Professor auf Arte und ziehe an der Pfeife. Auf Englisch bin ich ein linker Demonstrant am Berkeley Campus, ich sitze neben anderen Literaturstudentinnen, Politikstudenten, Soziologiestudentinnen in der Mensa und sage, 9/11 was a turning point that not only reshaped global security paradigms but also fueled Islamophobia, intensifying discrimination against Muslims on a global scale.“

Arthur est un perroquet

Diese Kontrastierung ist brillant austariert, mal oppositional, dann wieder ineinander verschlungen, sodass ein sich stetig schneller drehender Strudel entsteht. Der Text nimmt, könnte man sagen, die Geschwindigkeit der Dating-Apps wie Grindr auf, wo in Sekundenabfolge Lebensentwürfe und Begegnungen angeboten, bewertet, goutiert oder wieder verworfen werden. Schnell ist hier alles: Kaum hat das Buch begonnen, ist es schon wieder vorbei. Ein kurzes Leuchten, wie eine Sternschnuppe oder ein Feuerwerk. In seinen einzelnen Szenen unterscheidet sich der Roman höchstens graduell von queeren, postmigrantischen, desintegrierenden Schreibweisen unserer Tage. Erst im Zusammenspiel all dieser Elemente entsteht ein Kunstwerk, ein Meet & Greet-Rondo interessant-aufregender Figuren.

„Lea konnte sagen, Arthur est un perroquet. Et boum, c’est le choc. Tim konnte sagen, excuse me, how can I get to the post office? Max konnte sagen, una cerveza, por favor, aber bei Ali Usta konnte er den Ayran nicht auf Türkisch bestellen. Lea lernte im Sommer das erste Mal eine Französin kennen, eine Austauschschülerin aus Paris, sie hat sie nie Baguette, Fromage oder Crêpes genannt. Den Film Le fabuleux destin d’Amélie Poulain konnte sie von der ersten bis zur letzten Sekunde auswendig. Sie hat sogar Klavier gelernt, nur um die Filmmusik von Yann Tiersen nachzuspielen. Aber Yüksel Özkasap, die Nachtigall von Köln, kannte sie nicht. Das Lied Almanya’ya Mecbur Ettin konnte sie nicht auswendig.“

Besudelte Laken

Das ist eine vibrierende Sprache, die rauscht und zwitschert, während wild durcheinander die Coming-of-Queer-Story des Helden erzählt wird, seine verschiedenen Großstadttreffen, während man seinen Gedanken über den allpräsenten Franz Kafka und die Sprachlehrbücher der ersten, sogenannten „Gastarbeiter-Generation“ folgt, dann wieder urkomischen Therapiesitzungen beiwohnt, oder sich eine stupende Auflistung seiner bisherigen Fellatiodates durchliest – in einem Sound, der vom hochpoetischen Ton vorislamischer Liebeslyrik rasch hinabführt zu den besudelten Laken. So wischt man zwischendurch erschöpft – zusammen mit Zakariya – die Grindr-Dating-App durch.

„Ich denke, manche brauchen Nachhilfe für Selbstportraits. Einer steht vor dem Holocaust-Denkmal, er macht ein Foto und schreibt darauf: Berlin, the place to be.
Einer hält eine Waffe in der Hand und schießt.
Einer hat auf jedem Bild Herpes, so richtig groß, dass du es nicht übersehen kannst. Und die Fotos sind gar nicht so süß, dass man meinen könnte, okay, scheiß auf den Herpes.
Einer hält Regenschirme in unterschiedlichen Posen, er war nur bei schlechtem Wetter im Urlaub.
Einer sucht tatsächlich einen Job, ein WG-Zimmer, einen Gym-Buddy.
Einer sucht Klienten für seine Dienstleistung: Spirituelle Massagen, die dich zum wahren Ich führen.“

Mag mich jemand

Das Ganze kann mehr sein als die Summe der Teile. Wäre dieses Buch lediglich ein weiterer Dating-App-Roman, man würde ihn beiseitelegen, ebenso, wenn es nur um Queerness und die daran angegliederte Community ginge, oder wenn Keskinkılıç ausschließlich vom migrantischen Großstadtleben berichten würde. Doch – man muss es noch einmal betonen – „Hundesohn“ ist all das zusammen, in einer empathischen Weise, die es vollkommen unerheblich werden lässt, ob man nun selbst mit diesen Phänomenen unserer modernen Gegenwart „related“, wie es im Sound des Buches heißt, also mit ihnen verbunden ist. Denn Ozan Zakariya Keskinkılıç erzählt von allgemeingültigen, jeden Menschen betreffenden Gefühlen, wie dem Wunsch nach Geborgenheit und Familie, nach Halt und einem möglichst mit dem eigenen Ich identischen Leben. Liebe ist universell – Trauer ebenso: „Ich starre auf die Grindr-App und warte, bis mich jemand mag, den auch ich mag.“

Wieviel Schwermut in einen einzelnen Satz passt. Doch „Hundesohn“ hält sich nie lang bei einem Gefühl auf. Die Story ist in permanenter Bewegung, oder vielmehr: Bewegungen. Es gibt neben den Strudeln und Explosionen auch zahlreiche Kippfiguren. Sie verhindern das allbekannte Buzzwordbingo der anderen, sich lediglich progressiv tarnenden Romane unserer Gegenwartsliteratur. Beispielhaft eine Szene, die im südfranzösischen Marseille angesiedelt ist.

„Jemand hat auf den Marmor Gaza vaincra gesprüht, Gaza wird siegen. Der Krieg dauert schon zehn Monate. 37 000 Tote. 80 000 Verletzte. 20 000 Vermisste unter den Trümmern. Krankenhäuser zerstört. Schulen, Universitäten, Moscheen. Es gibt keinen sicheren Ort in Gaza, schreibt jemand in einer Story auf Instagram.“

Besorgte Bürger

Man ist über 180 Seiten der schwulen Zakariya-Figur gefolgt, um die muslimische Religion des Autors wissend, und dann geht es wie befürchtet um Gaza, den Krieg gegen die Hamas. Man bangt in Erwartung des nun folgenden Sermons – und wird elegant enttäuscht, möglicherweise sogar: mit eigenen Vorurteilen konfrontiert. Kein Aktivismus. Stattdessen: der radikale Gegenschuss. Diese Literatur ist ausschließlich am anspruchsvollen Denken interessiert, an scharfen Kontrasten und überraschenden Plot Points.

“Anfang des Jahres schrieb mir ein ‚besorgter Bürger’: ‚Wenn Muslime sich weiter so schnell verbreiten und Deutschland übernehmen, dann sind wir Deutschen doch in der Minderheit und müssen Kopfsteuer für Ungläubige zahlen!’ Meine Antwort lautete: ‚So lange kann ich nicht warten. Können Sie mir bitte schon jetzt die Abgaben überweisen? Am liebsten über PayPal. Danke und Allah sei mit Ihnen.’”

Kein Zitat aus „Hundesohn“, sondern aus Ozan Zakariya Keskinkılıç’ 2023 erschienenem Buch „Muslimaniac. Karriere eines Feindbildes“, einer schwungvollen Analyse über antimuslimischen Rassismus, konzipiert als hipper Gegenentwurf zur ökopapiernen Ästhetik der „Bundeszentrale für politische Bildung“-Schriftenreihe.

Keine Angst, und keine Wut

Das ist witzig, dialektisch, ironisch, wie das gesamte, noch schmale Werk des Schriftstellers und Politikwissenschaftlers. Und „Prinzenbad“, das ein Jahr zuvor veröffentlichte Lyrikdebüt, diese hochpoetische Vorstudie des „Hundesohns“, will man, sollte man lesen, nachdem Keskinkılıç’ Roman viel zu schnell beendet ist.

„zigaretten nach dem sex, lick my lips, apocalypse im ohr, und ich flüstere in verregnete kissen hinein: ich habe in zu wenig betten schöner männer gelegen um von dieser welt zu gehen.“

Zurück bleibt Bewunderung für Gedankenarbeit und Poesie des 36-jährigen Ozan Zakariya Keskinkılıç. „Hundesohn“, diese coole Liebesgeschichte, bringt Grindr und Ghaselen zusammen, um nach so viel Hast und Erleben ganz ruhig, überaus zärtlich zu enden. Im letzten, sehr kurzen Kapitel, sind die neun bangvollen Wartetage endlich durchmessen. Zakriya und Hassen küssen ihre Wangen sanft, und fühlen sich wie „zwei Verliebte in einer überteuerten Airbnb-Wohnung, in einer Stadt weit entfernt von zuhause, und die Zeit gibt es nicht. Und keine Angst, und keine Wut.“

Ozan Zakariya Keskinkılıç: „Hundesohn“, Suhrkamp, Berlin, 219 Seiten, 24 Euro

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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