Schriftsteller Jess Walter erinnert an eine italienische Affäre aus den frühen Neunzigerjahren. In bester Screwball-Manier treffen eine Filmdiva und ihr abgehalfterter Kollege, ein unsicherer Klosterschüler und ein gestrenger Lateinlehrer aus dem Vatikan in Bella Italia aufeinander. Sie inszenieren: den Film ihres Lebens.
Rom wird jährlich von 25 Millionen Touristen bereist, ist Sehnsuchtsort gläubiger Pilger und säkularisierter Sinnsucher, mindestens seit Johann Wolfgang von Goethe, dessen Italienreise ihren literarischen Legendenstatus behalten hat. Nach Rom zieht es auch den Helden aus Jess Walters Erzählung, der auf den schlichten Namen Jack Rigel hört; ein leicht verloren wirkender Jüngling aus Nebraska, der seiner Collegeliebe heimlich nachreist. Am Ende wird er zwar keineswegs finden, was er anfangs ersehnte, stattdessen aber eine prägende Erfahrung mitbringen.
„Ich begegnete dem Engel von Rom im Jahr meiner Neuerfindung, 1993. Ich war damals eine Art unfertiges Projekt, ein schüchterner, behüteter Einundzwanzigjähriger, zum ersten Mal in Europa, mit einer einzigartigen Gelegenheit, im Vatikan Latein zu studieren.“
Der geliebte Ledermantel
Seine alleinerziehende Mutter bestärkt ihn darin, das exklusive Lateinstudium an der päpstlichen Universität aufzunehmen. Die Sekretärin der katholischen Diözese in Omaha möchte, dass ihr einziger Sohn Priester wird. Jack mietet also ein kleines Apartment im Stadtteil Trastevere, „ein winziges Zimmer hinter einer Kfz-Werkstatt“, und sitzt tagsüber zwischen Altphilologen, Studenten und angehenden Priestern aus aller Welt im Latein-Hauptseminar. Geleitet wird es vom gestrengen Monsignore Festa, der zunächst ein wenig eitel seinen weiten Bildungshorizont ausbreitet. Jack fühlt sich eingeschüchtert.
„Ich war mit Abstand der Jüngste und Ungebildetste unter den zwölf Seminarteilnehmern und saß die meiste Zeit abseits von den anderen, gähnend, hustend und zusammengesunken in meinem geliebten Ledermantel. Mein Plan, die Tage schreibend in Cafés zu verbringen (…) erwies sich als zu teuer und undurchführbar, weil die Kellner und Baristas meine leere Tasse in Windeseile abräumten und mich von meinem Platz verscheuchten.“
Dieser junge Mann nimmt sich selbst als einen Ausgestoßenen wahr – und ist deshalb umso faszinierter, als er eines Abends durch die Gassen zieht und ein hellerleuchtetes Restaurant gewahrt, das ihm wie eine Bühne erscheint.
Ein echter Engel
Die Bewegungen der Kellner wirken wie choreographiert. Und an einer der großen Fensterscheiben sitzt die hinreißend schöne Schauspielerin Angelina Amadio, die nun aufblickt zum verdatterten Jack, und der, wie im Traum gebannt, seine Hand an die Scheibe legt. „Bevor ich sie wieder wegnehmen und beschämt davonlaufen konnte, lächelte der Engel von Rom mitfühlend, hob ihrerseits die Hand und drückte sie von innen gegen das Glas. Dann spreizte sie die Finger, bis ihre Hand genau auf meiner lag.“
Diese kitschige, grammatisch dezent schief übersetzte Situation basiert auf einem Missverständnis. Denn plötzlich wird Jack auf der Straße wüst beschimpft. Italienische Invektiven prasseln ihm entgegen. „Jetzt bemerkte ich auch die vielen hellen Scheinwerfer ringsum und begriff, dass die Leute glamourös wie Filmstars aussahen, weil sie genau das waren. Oder zumindest Schauspieler. Ich war in eine Szene gestolpert, deren Aufbau den Regisseur, wie ich später erfuhr, drei Stunden gekostet hatte, einzig um die ‚Goldene Stunde’ zu erwischen, jene besondere Phase des Zwielichts, die wie alles in der komprimierten Welt des Films gerade einmal ein Drittel so lang ist.“
Gott oder sich selbst finden
Jack Rigel ist zu seiner europäischen Reise angetreten, um zu werden, was er ist – so groß Goethianisch kann man es durchaus formulieren. Nach dieser peinlichen Filmszene wird er nicht verscheucht (was man erwarten würde), sondern Übersetzer des Hauptdarstellers Ronnie Tower – und eine ganz spezielle Bildungsreise beginnt mit diesem Engagement. Dieser abgehalfterte Star einer amerikanischen Detective-Serie avanciert zum Mentor und Biographiebeschleuniger. Er vermittelt Jack einen Drehbuchjob, der ihn eigentlich überfordern würde: hätte er nicht die Hilfe des Lateinlehrers Monsignore Festa und seiner Kommilitonen, den Altphilologen, Lateinstudenten und angehenden Priestern.
Der Schriftsteller Jess Walter hat vor über zehn Jahren im Cinque-Terre-Roman „Schöne Ruinen“ schon einmal einen Naivling, die strahlende Filmbranche und eine hinreißende Diva zusammengebracht. Dieser neue Text ist motivisch duchaus mit „Schöne Ruinen“ verwandt, eine straffe, mit Screwball-Elementen gestaltete Erzählung, die wie aus der Hand geschüttelt wirkt, aber bei näherem Hinsehen erstaunlich komplex durchkomponiert ist. 200 Jahre nach Goethes erster Italienreise beweist er damit, dass Rom noch immer: die einen zu Gott, die anderen aber zu sich selbst führen kann.
Jess Walter: „Der Engel von Rom“, aus dem amerikanischen Englisch von Georg Deggerich, Kampa Verlag, Zürich, 128 Seiten, 20 Euro
