Anfang dieses Jahres fragte der Perlentaucher (hier) nach den fünf wichtigsten deutschsprachigen Büchern des vergangenen Vierteljahrhunderts – und 28 Kritikerinnen und Kritiker haben geantwortet, von Elke Schmitter und Julia Encke bis hin zu Denis Scheck, Gustav Seibt, Lothar Müller – und meiner Wenigkeit. Bemerkenswert, dass die einen annahmen, es sei nach ihren je persönlichen Lieblingen gefragt worden, andere hingegen (wie ich) die fünf markantesten, folgenreichsten Bücher zu entziffern suchten: übrigens ein Auswahlprozess mehrerer Wochen mit zahlreichen Kölsch an verschiedenen Orten Köln. So entstand mein fehlerhafter Vorschlag:
EINS
Persönlich für mich auf der einen, für eine ganze Gattung auf der anderen Seite wichtig war ab 2003 die „Lyrik von JETZT“-Anthologie, die Björn Kuhligk und Jan Wagner im Dumont-Verlag herausgegeben haben (mit einem Vorwort von Gerhard Falkner). 74 junge Stimmen mit je vier Gedichten, von Silke Scheuermann über Albert Ostermaier bis Nico Bleutge zeigten selbstbewusst einen lyrischen Sound, der über zwanzig Jahre eine Blütezeit des Gedichts begleiten sollte, bemerkt auch von jenen, die zu Songs der Grand Hotel van Cleef-Gang tanzten. Spätere Verlegerinnen (Nikola Richter, Daniela Seel, Adrian Kasnitz), Professorinnen (Monika Rinck, Jan Röhnert, Christof Hamann), ein Deutscher Buch- (Uwe Tellkamp) und zwei Büchner-Preisträger (Marcel Beyer, Jan Wagner) waren in dieser Anthologie vertreten: definitiv gekommen, um zu bleiben.
ZWEI
Fin de party: Christian Krachts „Faserland“ war sechs Jahre zuvor erschienen – als „1979“ den Bücherherbst 2001 beeindruckte. Eine superästhetisierte, an die „Islamische Revolution“ aufgehängte Selbstfindungsreise, kurz nach 9/11 in den Läden, fortdauernde Avantgarde, offensichtliche Inspiration für noch heute vorwärtsschreitende Schreibweisen von Leif Randt („Schimmernder Dunst über CobyCounty) bis Joshua Groß („Prana Extrem“).
DREI
Mit Feridun Zaimoglus „Liebesmale, scharlachrot“, diesen „neuen Leiden des jungen Ali“ begann 2000 eine nicht abflauende Massen-Liebe und Leidenschaft für eine variantenreiche deutschsprachige „Literatur mit Migrationshintergrund“, die Suche nach dem wichtigsten „Wenderoman“ vielleicht nicht beendend, aber deutlich marginalisierend. Tausend neue Stimmen, tausend neue Geschichten sind seitdem erschienen, eine hohe, weite Tür wurde aufgestoßen, das Scheinwerferlicht gelenkt auf Stars wie Emine Sevgi Özdamar (Büchnerpreis 2022), Saša Stanišić (Deutscher Buchpreis 2019) und Tijan Sila (Ingeborg-Bachmann-Preis 2024). Pures Gold.
VIER
Aus ähnlichen Gründen, das Doppeljahrzehnt der Weiblichkeit einleitend, ist Juli Zehs „Spieltrieb“ von 2004 im eschatologischen Sinne die Erfüllung ihres bereits verheißungsvollen „Adler und Engel“-Debüts. Noch einmal Bonn, fünf Jahre nach dem Regierungsumzug in die neue Hauptstadt Berlin, ein Roman über toxische Machtverhältnisse und manipulative Perversionen – Pageturner und politische Parabel, ein früher Spitzentitel, auf den verzögert Verlagsprogramme folgen sollten, die endlich auch Schriftstellerinnen „auf die Eins“ setzen.
FÜNF
Bislang ist nur vage abzusehen, welche Bedeutung die Künstliche Intelligenz für den gesamten Buchmarkt, für Literatur als menschliche Kulturtechnik haben wird, doch „Halbzeug“ von Hannes Bajohr, 2018 bei Suhrkamp erschienen, ist das derzeit gültige Zeugnis algorithmischer Literatur – ein Möglichkeiten eröffnender, erstmalig breiter beobachteter Erkenntnisraum für einen (noch) fremdartig erscheinenden Umgang mit neuronalen Netzwerken wie ChatGPT, eine inspirierende Spekulation über kommende Vorstellungen von Originalität, Rezeption und Autorschaft.
