Die schönsten Bilderbücher im Juli

Was für ein Wunder die Gesamtheit aller Menschen sein kann, zeigen Elise Gravel und Yuval Harari, welches Wunder im Frausein ganz besonders liegt – und welche historisch belegbare Geschichte, beobachtet die neue Trägerin des Deutschen Sachbuchpreises Ulli Lust, und in die Wiener Seestadt führt Linda Wolfsgruber: das sind die Bilderbüchen des Regensommer-Monats Juli 2025.

Der israelische „Big History“-Denker Yuval Noah Harari („Homo Deus“) ist ein Liebling des Silicon Valley. Sein Geschichtsverständnis beruht auf der optimistischen Annahme, dass Menschen stets Lösungen für die Herausforderungen ihrer jeweiligen Gegenwart gefunden haben (diese Lösungen sind heutzutage schlechterdings technisch). Seine Denkweise ist kybernetisch, die daraus folgenden, oft an Niklas Luhmann erinnernden Kriseninterpretationen originell: den Überfall Russlands auf die Ukraine verurteilte er früh mit dem Hinweis, dass seit dem Zweiten Weltkrieg globale Mächte ausschließlich friedlich entstanden sind – China musste keine Bomben werfen. Der Tragödie des Nahost-Konfliktes begegnet er mit dem Hinweis, dass hier um eigentlich wertloses Land ohne Bodenschätze gekämpft werde. Weil die Berge und Täler Israels als „heilig“ gelten, wird erbittert um diesen Erdflecken gekämpft. Zudem gehört Harari zu jenen KI-Kritikern, deren Mahnungen als PR-Strategie für Chat-GPT, Grok usw. gelten können.

Mit dem bereits problematischen Satz „to master history, we don’t need to remember the past – we need to be liberated from it“, wird Harari zu Beginn dieser Graphic Novel zitiert, die sich anlehnt an seinen Weltbestseller “Eine kurze Geschichte der Menschheit”. Vordergründig wird untersucht, ob eher hierarchische oder stattdessen egalitäre Gesellschaften resilient sind, welche historische Bedeutung der Zufall hat (weshalb z.B. das Christentum, aber nie der Mithraskult mächtig wurde), warum wir stets rückblickend annehmen, diese oder jene Entwicklung hätte sich angekündigt, während wir nur das Wetter vage vorhersagen können. In aberwitzig schneller Abfolge, durchweg unterhaltsam, baut diese Graphic Novel gleichzeitig Komplexität auf – und vereinfacht durch geschicktes Zusammenziehen. Ein intellektueller Zaubertrick, dem man gerne folgt, stets ahnend, dass einige (wichtige) Informationen zugunsten des Plots bewusst verschwiegen werden. Yuval Noah Harari: „Sapiens. Das Spiel der Welten“, illustriert von David Vandermeulen und Daniel Casanave, C.H. Beck, 280 Seiten, 28 Euro

Der Einstieg erinnert an Asterix-Comics: „Wir befinden uns im Jahr 2025. Die gesamte Weltgeschichte ist ein Beweis für die Überlegenheit des Mannes… Die gesamte? Nein! Ein paar kleine Figurinen in den Museumsvitrinen hören nicht auf, die Legende von der natürlichen Dominanz des Mannes zu widerlegen.“ Die Frau vom Hohle Fels und die Venus von Willendorf sind Ausgang dieser dokumentarischen „Frau als Mensch“-Reihe („Mensch“ ist im niederösterreichischen Dialekt das Wort für „Mädchen“). In überwiegend, doch nicht ausschließlich binärer Beobachtung werden Legenden über steinzeitliches Leben widerlegt: Männer sind keineswegs unempathisch, weil sie sich gegenüber Primaten durchsetzten mussten (Rousseau dachte vermutlich an Schimpansen, nicht an Bonobos). Frauen waren auch Jäger. Aufgefundene Gräber mit Speeren wurden zunächst falsch zugeordnet, dabei sind die Becken häufig klar weiblich aufgebaut: Bis zum Ende der Jungsteinzeit zeigen Grabfunde auch keine Hierarchie unter den Geschlechtern. Überraschenderweise wirkt dieses Buch nie aktivistisch. Es betrachtet die Steinzeit an sich, beleuchtet Rituale, Lebensweisen, Moden und widmet ein Kapitel der Farbe Rot – und kommt zu dieser cleveren Gegenüberstellung: für Männer steht Blut in Verbindung mit Verletzung und Tod, für menstruierende Frauen hingegen symbolisiert Blut: das Leben. Ein beeindruckendes Buch, das mit Zitatbelegen und Quellenverzeichnis punktet. Die Venus von Willendorf oder die Frau vom Hohle Fels wurden übrigens sehr wahrscheinlich von Frauen gefertigt: „Wenn Männer die Ikonographie entwickelt hätte, würde es mehrere Figurinen mit gespreizten Beinen geben.“ Unlängst ausgezeichnet mit dem Deutschen Sachbuchpreis. Ulli Lust: „Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte“, Reprodukt, 256 Seiten, 29 Euro

Linda Wolfsgruber, im „Bilderbuchsamstag“ und „Lesen mit Links“-Blog bereits gelobt für ihre Schöpfungsgeschichte „sieben“ und das Collage-Märchen „Ein Kleid für den Mond“, stellt nun den komplett anders gestalteten „Eine Stadt“-Reigen vor. Sie reist in das Wiener „Seestadt“-Viertel, stellt einzelne Figuren vor, die in gezirkelt erscheinende Landschaften gestellt werden – je Doppelseite mit einem großformatigen Bild und einer sprachlich schlichten Prosaminiatur: „Lukas und Andrea lieben das Radfahren, ganz besonders wenn ihre Mama zuschaut. Andrea kann außer Radfahren auch Radschlagen und eine Luftrolle auf dem Trampolin machen. Lukas ist am glücklichsten, wenn er seinem Papa bei der Arbeit helfen kann.“ Wir treffen auf die pflanzenliebende Rosa mit „ihren beiden Männern“, auf Stadtbienenzüchter Jodok, Putzfrau Kathy, Bibliothekarin Elvira („Wärme schenkt sie ihrem Mann, der in einem Pflegeheim lebt und mit dem sie jeden Sonntagnachmittag eine Ausstellung besucht“) und auf Inge, die einen Wanderführer für die Stadt schreiben möchte. Das ist Studienmaterial für urban Vereinzelte, die ahnen, dass ein Mensch auch inmitten der Zivilisation verlorengehen kann wie Caspar David Friedrichs berühmt gewordener „Mönch am Meer“. Linda Wolfsgruber: „Eine Stadt“, Kunstanstifter, 44 Seiten, 25 Euro, ab 7 Jahre

Die Kanadierin Elise Gravel hat bereits mit der „Pilz-Parade“, der „Käfer-Kolonne“ und der illustren „Mikroben-Mannschaft“ für Heiterkeit gesorgt – in diesem Sommer stellt sie „Alle Menschen“ vor, beginnend mit der ersten Beobachtung: „Jeder Mensch ist einzigartig und anders. Aber wir sind uns ähnlicher, als wir denken.“ Sie hebt ab auf die Grundgefühle, die jeder spüren kann: Angst, Traurigkeit, Wut und Liebe. „jeder Mensch hat Hoffnungen und Träume. Jeder Mensch hat Ideen. Jeder Mensch verdient es mit Respekt behandelt zu werden.“ All diese Menschen stellt Elise Gravel im Stil ihrer vorherigen Bilderbücher vor, als leichtgängige Einübung in den Humanismus: lustvoll, amüsant, liebenswert. Elise Gravel: „Alle Menschen“, aus dem Englischen von Saskia Heintz, Hanser, 48 Seiten, 16 Euro, ab 3 Jahre

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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