The kids will never see the connection…

Die Compact Cassette als Erinnerungsmaschine, Emanzipationsmedium und Designobjekt

Als „The Pirate Bay“ im August 2013 ihr zehnjähriges Jubiläum feierte, präsentierte sich die Filesharingbörse mit einer Audiokassette im eigens zu diesem Anlass gestalteten Jubiläumsemblem. War das bereits die Referenz auf jene „Home Taping Is Killing Music„-Kampagne, mit der die britische Schallplattenindustrie Anfang der 80er Jahre gegen die massive Nutzung von Leerkassetten vorgehen wollte? – Als erstes „Broadcast Yourself„-Medium hat das Tape Geschichte geschrieben. „Die Ära der Audiokassette gilt weithin als Voraussetzung für das Aufkommen sozialer Tauschpraktiken, deren Potenzial in dem sich anschließenden digitalen Zeitalter für eine neue Medienumgebung bestimmend werden sollte – und durchaus auch ganz allgemein für neue Formen von Kreativität“, schreibt Adrian Johns in „Die Moral des Mischens“ und benennt hiermit die zentrale Innovation der Compact Cassette.

Mit dem Tape konnten Rezipienten lange vor YouTube ein Programm zusammenstellen – und (ver-)senden. Zugleich machten sie sich eben wegen dieses Zusammenstellens und Kopierens der „Piraterie“ schuldig. Johns zeichnet in seinem Aufsatz die Geschichte des Raubkopierens nach, beginnend bei Musiknoten-Kopierern im 17. und 18. Jahrhundert bis zu den Internet-Tauschbörsen der Gegenwart. Bemerkenswert ist hier, dass private Vinyl-Mitschnitte, beispielsweise von Jazz- und Opernaufnahmen lange vor Aufkommen der Compact Cassette zirkulierten, für die teilweise sogar Tantiemen gezahlt wurden.

Johns: „Wirklich interessant war, dass Anfang der 1980er Jahre die Anzahl der privaten Mitschnitte beides in den Schatten stellen sollte. Wie die EWG ermittelte, produzierten kommerzielle Raubkopierer zu diesem Zeitpunkt Millionen Aufnahmen pro Jahr, darunter 80 % Kassetten, mit einem geschätzten Gesamtwert von 100 Mio. US­Dollar. Die Zahlen waren unglaublich: Raubkopieren war ein gewaltiges Unternehmen, das mit den anderen internationalen Großkonzernen durchaus mithalten konnte.“

Die Kassette war jedoch mehr als ein Kopiermedium. Sie ermöglichte ebenso originäre Kunstwerke. Das galt vor allem hinter dem so genannten „Eisernen Vorhang“, wo Musiker fernab reglementierter Staatslabel Musik unter die Fans bringen konnte. „Im X-Mal haben wir ORWO-Ostkassetten aufgelegt, mit zwei Decks. Vorhören ging nicht. Skippen, Scratchen – alles nicht möglich“, erinnert sich Ronald Galenza, Redakteur beim RBB-Jugendradio Fritz. “Zählwerke gab’s an den Geräten schon, und dann wusstest du, bei 7:32 Minuten fängt The Clash an, ›London Calling‹. Aber mal haste die Stimme von John Peel noch draufgehabt, dann fiel ein Bier um, oder du hattest Bandsalat, während alle schon beim Pogo waren und dann kam plötzlich nix.“

Zudem entstanden in der DDR Bands wie Klick & Aus, deren erstes Tape „AIDS delikat“ 1984 für Furore sorgte. „Denn Aids war damals eine Art mystische Erkrankung, eine Strafe des Himmels. Eine Seuche, deren Herkunft völlig unklar war“, wird Klick & Aus-Bandleader Thomas Roesler (Künstlername Thom di Roes) im Sammelband „Spannung. Leistung. Widerstand“ zitiert. „Es war eine diffuse und tödliche Bedrohung und: sie kam aus dem Westen. So war es Subkultur und unsichtbarer Terrorismus par excellence. Dem gaben wir das Beiwort delikat dazu, das eine Anspielung auf die DDR-Delikat-Läden war. Dort gab es das Feinste vom Feinen, und ebenfalls aus dem Westen. Wir hatten 100 Kassetten herstellen lassen, und die als Erste für 30 oder 40 Ostmark verkauft.“ Das war natürlich ein Sakrileg. Kassetten verkaufte man nicht, die wurden verschenkt.

Beim Klassenfeind wiederum, im amerikanischen HipHop, sind viele Künstler zuerst mit ihren Mixtapes bekannt geworden: Wie Notorious B.I.G. oder Mary G. Blige. DJ Westbam erinnert sich, dass Mitte der 80er Jahre im Club schwunghaft mit Kassetten gehandelt wurde: „DJ Lupo aus dem P1 hat immer drei, vier Kassetten am Abend verkauft. Ich weiß auch, dass über meinen Vorgänger im Metropol gesagt wurde: Ein Kassette von dem Chris aus dem Metropol kostet 200 Mark!“ – Tatsächlich soll es etliche Zuhälter vom Ku-Damm gegeben haben, die sich das leisten konnten.

Die Kassette in Zahlen

Das ist ein stolzer Preis für das kleine Medium, eine eher simple Weiterentwicklung der ersten bespielbaren Bänder, die Thomas Alva Edison 1917 erfunden hat. Stereokassetten, die auch Musik in HiFi-Qualität speichern können, gibt es seit 1967. Das Tape ist 10,16 cm x 6,35 cm x 1,27 cm groß und passt perfekt in eine Hemdtasche. Die Magnetbandbreite einer MC liegt bei 3,81 mm. Die Dicke beträgt 16 µm bei einer C60 und 9 µm bei einer C120. Eine C90 enthält ungefähr 130 Meter Kassettenband. Im ersten Jahr wurden gerade mal 9000 Tapes weltweit verkauft. 1965 versuchten Grundig, Blaupunkt und Telefunken mit DC-International ein alternatives, vergrößertes Kassettenformat auf den Markt zu bringen. Sie scheiterten ebenso wie Saba mit dem für den PKW-Bereich gedachten Sabamobil-System. Ende der 1960er Jahre waren in der BRD ca. 1000 verschiedene Musikkassetten erhältlich, überwiegend Schlager- und Popproduktionen, weil das Bandrauschen als klassikuntauglich galt.

1966 wurden die ersten 8-Spur-Tapedecks, hergestellt von Motorola, in Ford-PKW eingebaut. Da sie auch in Kanada und Japan Verwendung fanden, konnte sich das System neben der gängigen MC etablieren. Die 8-Spur-Kassette mit 1/4-Inch-Band und 4 nebeneinander liegenden Stereo-Spuren wurde 1964 von William P. Lear erfunden (dessen zweistrahligen Düsenflugzeuge wahre Legenden der Lüfte sind). Ein Tapedeck spielt die Kassette mit einer Geschwindigkeit von 47,625 Millimetern pro Sekunde ab. 60-Minuten-Tapes kosteten Mitte der Sechziger 1,50 Dollar. 1968 setzen 85 verschiedene Hersteller weltweit über 2,4 Millionen Tapedecks ab, der Kassettenmarkt insgesamt setzte über 150.000.000 Dollar um. 1980 wurden in der BRD 43.500.000 Kassetten verkauft (ohne Leer-Kassetten). 1985 waren es 49.400.000 Kassetten, 1990 ging der Verkauf auf 43.900.000 Einheiten zurück. Ab 1985 mussten 19 Pfennige je 60 Minuten Leerkassettenband an die GEMA abgeführt werden.

Die Kassette als Kunst

1987 bewarb Pioneer sein Tapedeck RT-2044 mit dem Slogan: „For the price of a few hours in a recording studio, you can own one.“ Jochen Rausch, der einstige „Stahlnetz“-NDW-Pionier und heutige Programmdirektor des WDR-Radios 1LIVE erinnert sich: „Technisch gesehen war die Audiokassette, die – 1963 erfunden – in den 1970er Jahren groß wurde und dann schon 1982 der CD begegnete, ein Übergangsmedium. Ein Fall fürs Technikmuseum. Mag sein, dass wir veteranenhaft schwärmen, Nächte mit unseren Platten verbracht zu haben, dass wir Stunde um Stunde vor den Altären aus Verstärkern, Equalizern und Tapedecks knieten, weil das Vinyl ja in Echtzeit auf die Tapes überspielt werden wollte. Mag sein, dass wir die Cover preisen, die wir für unsere Mixtapes gebastelt haben, Unikate aus Lack, Fotos, Zeitungsausschnitten, Letraset. Vielleicht erzählen die Coolen, dass die Aufnahmen per Hand ausgesteuert werden mussten, wenn es echt klingen sollte. Oder die Technikfreaks, dass sie die Tapedeck-Prospekte von Sony mit demselben ungläubigen Staunen durchgesehen haben wie Pornohefte. Dass das Nakamichi Dragon mit automatischer Azimuthjustage bei einem Neupreis von rund 4500 Mark das vielleicht beste Tapedeck aller Zeiten war. Oder dass es gute Gründe gab, die Auto-Reverse-Technik abzulehnen (außer beim Sex), dass man sich nur zu besonderen Anlässen eine Chromkassette geleistet hat und dass die 120er Tapes zu vergessen waren.“

Eine Stunde im Studio kosteten in Kalifornien ca. 165 Dollar, das RT-2044-4-Spur-Deck hatte einen Listenpreis von 1650 Dollar. Zur gleichen Zeit kostete der DDR-Rekorder SKR 700 runde 1540 Mark. Heutzutage bekommt man für diesen Preis einen PC mit 1-TB-Festplatte. Auf eine Commodore-Datasette passten in den 1980er Jahren gerade mal 45 KB. – Inzwischen wurde die Massenproduktion von Kassetten eingestellt. Bei so genannten „Rekorderrennen“ werden Walkmans, Boom-Boxen und batteriebetriebene Tape-Decks zu kleinen, unbemannten Rennwagen umgebaut. Zusätzliche Antriebe außer den vorhandenen Motoren sind verboten. Pro Fahrzeug darf nur ein Rekorder eingesetzt werden. Befahren wird eine Rennstrecke von 20 Metern auf glattem Hallenboden. Beim Dortmunder Rekorderrennen 2006 gewann in der Walkmanklasse „KISD FF1“ mit 6,40 Sekunden, in der Boombox-Klasse „Funk Master Flex“ in 12,03 Sek.

Die Kassette ist 50 Jahre alt – und Sony beendet in diesem Jahr die Produktion von Taperecordern. Im Netz kursiert seit längerer Zeit ein Foto mit Kassette und Bleistift, darunter der Satz: „The kids will never see the connection between these two objects„.  – 2013 ist die Kassette vor allem als Designobjekt erhalten. Moleskine hat eine Sonderauflage seines legendären Notizbuchs im Programm – in Kassettenoptik. Es gibt Smartphonehüllen mit Kassettenaufdruck und DIY-Portemonaies im Kassettenlook. In der Clubszene ist das Tape wie selbstverständlich Namensgeber etlicher Indieparties. Es taucht auf den Flyern von HipHopreihen auf. Einer der Shootingstars unserer Zeit, der Rapper Cro, ist wiederum 2011/12 mit seinem kostenlosen Mixtape bekannt geworden, dessen Verbreitung über das Netz stattgefunden hat.

Das Netz besteht aus Nullen und Einsen, ist etwas sehr Kühles, sehr Rechnerisches. Deshalb muss es mit Emotionen künstlich aufgeladen werden. Die Musikindustrie hat in den 80ern zwar behauptet, dass Leerkassetten die Musik zerstören würden. Doch heutzutage ist das inzwischen tote Musikfernsehen neu auferstanden, mit dem Internet-Musiksender tape.tv aus Berlin, wo sich Nutzer „Musikvideo-Mixtapes“ zusammenstellen können. Dazu gibt es Tapes in der Kunst, wie bei Gregor Hildebrandt. Der Berliner arbeitet seit zehn Jahren mit bespielten Kassettenbändern – und stellt seine Bilder weltweit aus. Seine Werken können durchaus mal 100.000 Dollar kosten. Dafür hätte man früher eine Menge Kassettenmusik bekommen können.

Im Staalplaat-Laden

Der DJ Brian Shimkovitz‘ sammelt Kassetten aus Afrika und stellt sie ins Netz. In Neukölln wiederum betreibt das einst in Amsterdam gegründete Label „Staalplaat“ (oben im Bild) ein DIY-Geschäft mit raren Vinyl, Fanzines und weltweit produzierten Kassetten. Allein auf der Homepage sind mehr als 450 aktuelle Tapes gelistet. Store-Manager Guillaume Siffert verkauft Kassetten im einstelligen Bereich je Produktion, „was schon recht viel ist bei Auflagen von 50 oder 100 Exemplaren“. Um diese Kassettenkultur haben sich auch 2013 etliche Kunstprojekte gruppiert, von denen etliche in Claudia Roccettis Künstlerbuch „the fall of chrome“ zu sehen sind: Collagen, Mediationen über Kassetten (Francesco Cavaliere: „We use cassettes to tell stories and play them into our dreams.“), literarische Aufsätze wie „A Shoe Box full of Memories, or how I liberated the story from my tape recordings“ von Rinus van Alebeek, Fotografien, Entwürfe für Kassettencover. Und wer sich weiterhin für die kleinen schwarzen Bänder interessiert, kann am 7.9.2013 beim „Cassette Store Day“ in London, Stockholm, Tokio und New York vorbeischauen, wo erneut die Doppeldeutigkeit von Rob Sheffields Buchtitel „Love is a Mixtape“ offenbar wird. Trotz MP3-Files, itunes-Listen, CDs und Terrabyte-Speichern bleibt die Leidenschaft für die Compact Cassette – auch wenn es beim Blick auf Bleistift und Tape heißt: „The kids will never see the connection between these two objects.“ (Das Beitragsbild ist von Wikipedia)

Interview mit Guillaume Siffert von Staalplaat

Hier gibt es den kompletten Aufsatz inkl. Fußnoten + Literaturangaben

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4 Kommentare

  1. […] „The kids will never see the connection between these two objekts“ (Funkhaus Europa, pop-zeitschrift.de, […]

  2. […] habe ich mit SAT1-”Planetoid” in meinem Berliner Lieblingskassettenladen “Staalplaat” einen Beitrag zum nach wie vor 50. Geburtstag der Compact Cassette gedreht – wenn der […]

  3. […] morgigen Samstag werde ich mal wieder “Staalplaat“-Berlin einen besuch abstattet, um dieses Mal mit dem SAT1-Wissensmagazin Planetopia […]

  4. […] einem Monat feiert die Compact Cassette 50-jähriges Jubiläum. Anfang September startete der International Cassette Store Day. Opel bewirbt seinen […]

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