Rezension: Wolf Haas und der liebe Gott

Jetzt ist schon wieder etwas passiert: Simon Brenner, sprachmächtiger Detektiv des österreichischen Schriftstellers Wolf Haas wird ein Kind entführt.

“Meine Großmutter hat immer zu mir gesagt, wenn du einmal stirbst, muss man das Maul extra erschlagen. Und da sieht man, wie ein Mensch sich verändern kann. Weil heute bin ich die Ruhe in Person.” Mit diesen altväterlichen Worten beginnt der neue Fall, des nach sechs Jahre langer Durststrecke endlich wieder auf der Bildfläche auftauchenden Detektivs Simon Brenner. Im Lauf der nun folgenden 224 Seiten gäbe es ausreichende Gründe, um den einzelgängerischen Steppenwolf aus der Ruhe zu bringen – ein Mordanschlag ist beinahe das kleinste Übel – doch Brenner bleibt cool, pardon, gelassen, denn: “Ich persönlich schau heute lieber auf die positiven Seiten des Lebens.”

Wenn das nur so einfach wäre. Simon Brenner, der vor vielen Jahren bei der Polizei seinen Dienst quittieren musste und sich seitdem als Gelegenheits-Sherlock-Homes und immer öfter als Hilfsarbeiter durchschlägt, arbeitet nun als Chauffeur des frisch wiedervermählten (also gleichzeitig auch geschiedenen) Baulöwen Kressdorf, genauer als Chauffeur der kleinen Tochter, die zwischen Ex-Frau und Neufamilie hin- und herkutschiert werden will. “Jetzt hat der Vater auch gerade viel Stress, weil Bauunternehmer immer Stress, und darum das Kind natürlich auch Stress. Weil wenn du heute zwei Eltern hast, die keine Zeit, aber fünfhundert Autobahnkilometer zwischen sich haben, dann kommst du als Kind natürlich nicht mehr von der Autobahn runter.” Weshalb das erste Wort der Kleinen auch nicht “Mama” oder “Papa”, sondern ganz schlicht “Fara” gewesen ist.”

An einer Tankstelle wird die kleine Tochter entführt – der Brenner will die Tankrechnung zahlen und später seinem jungen Fahrgast eine heisse Schokolade mitbringen, doch als er erkennt, dass die Rückbank des Wagens leer, ist, da schießt ihm “das Blut so durch den Halsschlauch in seinen Kopf hinauf, dass sein ganzer Kopf gepocht hat wie einmal, wo er beim Jimi-Hendrix-Konzert in Stuttgart sein Ohr an die Bassbox gehalten hat.” Die Tochter ist weg, die Entführer melden sich nicht und dann gibt es plötzlich an ganz anderer Front verdammten Ärger, denn: “Die Frau vom Kressdorf ist Ärztin gewesen, die hat ihr eigenes Institut gehabt, eine kleine Etagenklinik im 1. Bezirk. Gute Ärztin, aber leider in letzter Zeit viele Probleme mit den Betschwestern vor dem Haus, sprich Demonstranten. Die sind gegen Abtreibungen gewesen, weil das war eben ihre Überzeugung, es soll nicht sein, tausend Gründe, der liebe Gott, die Jungfrau Marie und und und.”

Kritische Fans dürfen nun protestieren: Das sei doch gar nicht der Brenner, der da von sich behaupte, er sei die Ruhe in Person, und ob er persönlich lieber auf die positiven Seiten des Lebens schaut, das sagt er doch nirgendwo – das ist doch ein Zitat des Erzählers. Bereits hier beginnt die große Meisterschaft von Wolf Haas, der in seinen Romanen immer wieder Erzähler-, Autoren- und Figurenstimme vermischt, bis sie als Individuum dastehen und man als Leser beim besten Willen nicht auseinanderhalten kann, wer jetzt was über wen gesagt hat. Dieses Mischen, der DJ oder Popjünger würde natürlich “Mixen” sagen, lässt das Roman-Set von Wolf Haas schillern, es dreht sich wie ein Feuerrad, bis einem ganz schwindelig wird vor lauter Verweisen und Anspielungen und Querverbindungen.

Kalauer (”Proleben gegen Prolesben”), Konzerterinnerungen (Jimi Hendrix in Stuttgart 1969), Stadtführungen (”Verteidigungsministerium, Museum für Angewandte Kunst, Stadtpark, Schwarzenbergplatz, Oper”), Postillen wie “Religion aktuell” und soziologische Betrachtungen über Tankstellensäufer bilden zunächst einen großen “Riesenland”-Rummel – bis sich zum Ende alles auflöst und, wie bei Wolf Haas üblich, auf raffinierte Weise ineinandergreift. Denn selbstverständlich ist es auch kein Zufall, dass hier die Geschichte von gewollten Abtreibungen erzählt wird, während dem Brenner vollkommen ungewollt ein Kind abhanden kommt (um nur eine Querverbindung anzudeuten) und selbst im Titel steckt ein selbstbewusstes Augenzwinkern des Autors: “Der Brenner und der liebe Gott”. Darüber steht nur eine Zeile: “Wolf Haas”. Wer hier Gott sein soll (der alles erfindende Autor), dürfte am Ende dieses großartigen (Kriminal-)Romans offensichtlich sein.

Wolf Haas: “Der Brenner und der liebe Gott”, Hoffmann und Campe, 224 Seiten, 18,99 Euro / Das Taschenbuch ist bei dtv erschienen

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