Luftbeben: Von Ypern zu Chanel

Das unübersichtliche Warenangebot indischer Goa-Räucherstäbchen, aufwendig gemischter Duftkerzen, schlicht designter Carré Parfumés  und  vehement  beworbener  Kleidersprays zeigen:  Im postindustriellen Zeitalter kultureller Dauerüberformung möchte der urbane Bewohner sein Raum-Odem „natürlich“ rein halten. In den eigenen vier Wänden soll es frühlingsfrisch und nach Bergbrise riechen; unsere Kleidung wird mit „Lavendelaroma“ versetztem Waschmittel gereinigt. Eine Betrachtung.

Wrigley‘s-Airwave-Kaugummis versprechen polar-eisigen Atemhauch, olfaktorisch abgestimmt mit uni-sexuellem CK-One-Rasierwasser. Wir tupfen uns ab mit zitronengetränkten Erfrischungstücher für unterwegs und pitchen unsere Raumluft mittels teurer Klimaanlagen auf mediterranes Niveau. – Während die realen Berge immer seltener nach Brise riechen, der Lavendel im städtischen Feinstaub verendet, die Natur von unserer westlichen Kultur an den Rand gedrängt, umzäunt (Schutzgebiete), zaghaft imitiert (Tropical Islands) wird, arbeitet eine riesige Luftdesign-Industrie am Natur-Fake im Konsum-Metropolis.

Die vorliegende Arbeit möchte beschreiben, wie Atemraum zum Designfall wurde und was dies im Vergleich zu anderen Raumkonstruktionen und -designs bedeutet. Ferner möchte ich fragen, wie der Umweltbegriff ins omnipräsente, öffentliche Bewusstsein gelangte. Wie reagiert das Individuum, wie reagieren wir, auf Luft-, Umwelt-, Duft-, und Atemdesign; noch heute, oder: gerade heute, im Jahrzehnt der CO2-Zertifikate, Hybridautos, der Umwelthysterie.

Ist (Atem-)Luftdesign ein wesentliches Merkmal von Moderne und Postmoderne? Zum besseren Theorie-Verständnis, möchte ich anfangs aus der kleinen, 2002 erschienene Schrift „Luftbeben – An den Quellen des Terrors“ des Philosophen Peter Sloterdijk zitieren, weil sie in überaus kurzweiliger Art beschreibt, wie die Luft, die uns alle umgibt, zum Problem-, und Produktionsfall des Zwanzigsten Jahrhunderts geworden ist.

Der Gaskrig und das atmoterroristische Muster

„Es ist der 2. April 1915. Auf dem deutschen Truppenübungsplatz Beverloo in Belgien durchdringt ein Zischen die Morgenstille. Gelblichgrüne Schwaden kriechen über den Boden, vereinigen sich zu einem Nebel. Plötzlich treiben zwei Männer ihre Pferde in die Gaswolke – der deutsche Chemiker Fritz Haber und Oberst Max Bauer vom deutschen Generalstab. Kaum sind sie vom Nebel umhüllt, schnürt es den Reitern die Kehle zu. Krampfartiger Husten schüttelt ihre Körper, ihre Pferde stolpern keuchend und zitternd vorwärts. Als sie die Schwaden passiert haben, sind die Männer fast erstickt, ihre Gesichter wachsbleich. Auf Tragen werden sie vom Übungsgelände transportiert.“

Mit diesem Selbstversuch haben die beiden Chemiker bewiesen, wie sensibel der menschliche Organismus auf eine Chlorattacke reagiert. Die Waffe wird wenige Wochen später gegen den Feind gerichtet. Am 22. April blasen deutsche Truppen bei Nord-Nordostwind in Ypern 150 Tonnen Chlor ab. Sie brechen mit dem Gift eine sechs Kilometer breite und 600 bis 900 Meter tiefe Schneise in die französisch-kanadischen Stellungen, ungeachtet der strengen Haager Landkriegsordnung von 1907, welche „die Verwendung von Giften und leidenverschärfenden Waffen jeder Art zu Handlungen gegen den Feind und erst recht gegen die nichtkombattante Bevölkerung“  verbietet.

Sloterdijk eröffnet mit der Darstellung dieses Angriffs seine Schrift „Luftbeben“, weil er in Ypern „die Praxis des Terrorismus, das Konzept des Produktdesigns und den Umweltgedanken“  zusammentreffen sieht. Für ihn sind diese Erscheinungen wichtig zum Verständnis des Zwanzigsten Jahrhunderts, das durch diese drei Erscheinungen gekennzeichnet sein soll. Produktdesign und Umweltgedanken sind massgeblich für die vorliegende Arbeit, die beschreiben möchte, wie die uns umgebende Luft vor zirka 90 Jahren als formbarer Raum in Erscheinung trat.

Das Prinzip, die Umwelt des Gegners mit Giftgas in den Kampf einzubeziehen, „hat Shakespeare prophetisch dem Shylock in den Mund gelegt: Ihr nehmt mein Leben, wenn ihr die Mittel nehmt, wodurch ich lebe.“ Das Gas attackiert nicht direkt den Körper des Feindes, sondern „seine primären umweltabhängigen Vitalfunktionen.“ Anfangs haben beide Parteien Probleme mit der rechten Handhabung der neuen Waffe. Angestellte von militärklimatologischen Instituten machen sich Gedanken über folgende Fragen:

– wie kann die rasche Verdünnung der Giftwolken verhindert werden?

– wie kann die Wolke über dem Gefechtsfeld stabilisiert werden?

– welcher Waffenträger befördert das Gas zu den gegnerischen Stellungen?

Sloterdijk schreibt: „Die Giftwolkenkunde ist die erste Wissenschaft, mit der das 20. Jahrhundert seine Identitätsurkunde abgibt.“ – Brisanzgeschosse der klassischen Artillerie werden aus Gründen der Zielgenauigkeit mit den nebelbildenden Geschossen der neuen Gasartillerie rekombiniert. Stabilisatoren und neue Mischungen ermöglichen einen verschärften, verbesserten Einsatz im Stellungskrieg.

Früh ergreift das Militär erste Schutzmaßnahmen: Zwischen Februar und Juni 1916 werden 5 1/2 Millionen Gasmasken und 4300 Sauerstoffschutzgeräte aus dem Bergbau an die deutschen Truppen in Verdun ausgegeben. Laut Sloterdijk zeigt das Konzept Gasmaske, dass sich „der Angegriffene aus seiner Abhängigkeit vom unmittelbaren Atemluftmilieu zu lösen versucht, indem er sich hinter einem Luftfilter“  verbirgt. Dies sieht er als ersten Schritt zur Klimaanlage, deren Prinzip ebenfalls auf der Abkopplung eines definierten Raumvolumens von der Umgebungsluft basiert.

Die Atemmaske führt dazu, das ein neuer Kampfstoff entwickelt, die feindliche Atemluft, der Umweltangriff neu designt werden muss. „Vom Sommer 1917 an brachten deutsche Chemiker und Offiziere den als >Blaukreuz< oder Clark I bekanntgewordenen Kampfstoff Diphenyl-Arsenchlorid zum Einsatz, der in Form feinster Schwebstoffpartikel imstande war, die gegnerischen Atemschutzfilter zu überwinden – ein Effekt, den Betroffenen mit der Bezeichnung >Maskenbrecher< quittierten.“

Mit diesem Wett-Designen wird die früher als frei empfundene Atemluft zum Gefahren-, zum Todesort. Jeder muss atmen. Das gehört zum Leben. Aber im Stellungskrieg von Verdun wird aus dem Notwendigen die Todesbedingung. Dadurch, dass der Soldat das Gift einatmet, schädigt er seinen Körper, setzt ihn der Todesgefahr aus. Diese Erfahrung „im freien Luftraum“ war neu.

In den 1920er Jahren wurden die neuen Erkenntnisse bruchlos in eine zivile Nutzung überführt und plötzlich waren Ungeziefer im Haushalt Angriffsfläche für Chemieattacken und zur Insektenabwehr sollten Landwirte Blausäuregas verwenden. Der damals konzipierte Werberjargon wurde später von den Nationalsozialisten übernommen, als man den Holocaust mit „Schädlingsbekämpfung“ des kranken Volkskörpers verglich.

Durch Beimischung eines wahrnehmungswirksamen Reizgases (pures Blausäuregas ist geruchslos) entstand das Designergas Zyklon A. Damals ging man von der Ungefährlichkeit der „Begasung“ geschlossener Räume aus. 1926 ließ die Hamburger Firma Tesch & Stabenow (Testa) ihr leicht zu transportierendes Spitzenprodukt Zyklon B patentieren. „Es kam in Dosen von 200g, 500g, 1kg und 5 kg auf den Markt.“

Bereits zwei Jahre zuvor wurde in Nevada (USA) die erste zivile Gaskammer in Betrieb genommen. Hier, im geschlossenen Raum, hatte man nicht mit den vom Ersten Weltkrieg bekannten Problemen der Konzentration, der Stabilisation, des Gastransportes zu kämpfen. „Damit trat das Giftwolkendesign gegenüber dem Design der Kammer und des Gasapparats in den Hintergrund.“ Man kümmerte sich um die Abschottung des tödlichen Gasraumes und der Außenwelt, welche vor einer Scheibe sitzend dem zufriedenstellenden Tötungsverlauf beiwohnen konnte. Drinnen der Tod, draußen das Leben. „Sein und Seinkönnen außen, Seiendes und Nichtseinkönnendes innen.“ Das „Atmen-zum-Tode“ nahm seinen Lauf.

Luftraum als Kulturfall

Die Beherrschung des Klimas war in den ersten Jahrzehnten augenscheinlich destruktiv konzipiert. Auch später gab es militärklimatologische Kampfkonzepte wie das 1996 vom Pentagon präsentierte Papier „Wetter als Kampfkraftmultiplikator: Weltherrschaft im Jahr 2025“, das sich mit Luftraumtrübung, Gewitterverstärkung, künstlicher Trockenheit und provozierten Regenfällen beschäftigt.

Es gibt gottlob genügend Beispiele für die friedliche Nutzung des Luftraumes, und auch für die Sorge um ihren Schutz. Davon zeugen Umweltprotokolle, Klimakonferenzen und Luftschutzparagraphen. Die Menschheit hat verstanden, dass Luft notwendig zu unserem Da-Sein gehört.

Oft machen wir uns keine Gedanken über „Kulturklima“ in unserem Alltag. Der Kühlschrank gehört ebenso dazu wie die Trockenhaube, die Heizung, Sauna, Klimaanlagen, Luftfilterapparaturen, Raum-Ionisatoren und so weiter,. Luftdesign ist Teil der Innenarchitektur und die New York Times beschäftigt mit Chandler Burr als einzige Zeitung der Welt einen Duftkritiker, dessen Buch „Der Kaiser des Geruchs“ ein erstaunlicher Erfolg war.

Die Parfümindustrie, die den individuellen Duft für Frau und Mann entwickelt, ist aufgrund ihrer penetranten Werbung im öffentlichen Blickpunkt. Relativ unbekannt sind die Vertreter einer ähnlich gelagerten Branche: Corporate-Scent-Profis mischen den exquisiten Duft für Firmen. „Nach Schriftzügen, Logos und Erkennungsmelodien soll nun der unverwechselbare Geruch die Corporate Identity eines Unternehmens stärken und von der Konkurrenz unterscheidbar machen. In Geschäften, Empfangsräumen, Prospekten und sogar auf Visitenkarten kann der Duft eingesetzt werden.“ Laut einer Studie der Uni Paderborn harren Kunden länger in bedufteten Geschäften aus und kaufen im Schnitt sechs Prozent mehr ein.

Audi beschäftigt ein „Nasenteam“, das störende und unangenehme Gerüche in den Fahrzeugen aufspüren soll. Man arbeitet am geruchsneutralen Auto. Bei Audi werden Proben jedes geruchsrelevanten Bauteils zwei Stunden lang auf 80 Grad Celsius erhitzt. Danach riecht das Nasenteam an den Proben und vergibt Schulnoten für die Penetranz des wahrgenommenen Geruchs. „Nur Materialien mit einer Durchschnittsnote von maximal 3 (starker Geruch, aber noch nicht störend) dürfen in einem Audi verbaut werden.“ In Frankreich werden Autos ab Werk parfümiert. Der Citroen C4 wird sogar mit einer Duftkartusche im Armaturenbrett ausgeliefert, die übers Gebläse den gewünschten Geruch ins KFZ-Innere abgibt. „Peugeot hat inzwischen nachgezogen.“

In der Pariser Metro werden monatlich 1,5 Tonnen Parfümzusätze ins Reinigungswasser gegeben, um das „Gemisch aus verbranntem Gummi (von den Reifen bremsender Metros), Kloake, Schweiß und Urin“ wirksam zu übertünchen. Das Parfüm setzt sich zusammen aus den Duftnoten Zitrone, Orange, Lavendel, Vanille und Moschus.

Immer weiter wird am Thema Duft und Raum geforscht. Eine psychologische Studie fand heraus: „Wer mit einem Duft lernt und schläft, kann sein Gedächtnis verbessern.“  Versuchspersonen, die sich im Rosenduft Gegenstände einprägen sollten, memorierten wesentlich zuverlässiger als die Vergleichsgruppe.

Was unterscheidet den Luftraum von anderen Räumen?

Der mathematische Raum ist bekanntlich ausmessbar. Aber im Luftraum geht es nicht um Rechenleistung, sondern um sinnliche Erfahrung, um die Frage, was „die Luft mit uns anstellt“: Die Ausdehnung der tödlichen Ypern-Gaswolke ist hier weniger entscheidend als der Husten Fritz Habers beim Durchreiten dieser Wolke oder Peter Sloterdijks Erkenntnis, dass durch den Gasanschlag die Epochenuhr umsprang, „von der vitalistisch-spätromantischen Phase der Moderne (…) auf die der atmoterroristischen Sachlichkeit.“

In der Renaissance hieß es: „Nur solche Natur, die sichtbar ist oder sichtbar gemacht werden kann – das ‚Evidente‘ – kann vom menschlichen Verstand erfasst und beschrieben werden.“  Es ging um den materiellen Beweis. Die Duftuntersuchungen bleiben dagegen in der sinnlich-vagen Erfahrbarkeit stecken: „Wer im Rosenduft schläft, erinnert sich besser“ . – „Der Duft frisch gebackener Brötchen schafft ein Gefühl von Geborgenheit“. -– „Pheromone locken weibliche Paarungspartner an“, versprechen halbseidene Ehehygiene-Hersteller.  (Bisher wurde übrigens kein menschliches Pheromon lokalisiert.) Und: „Dufter Gedächtnisanker stärkt das Firmenimage“. 

Diese Behauptungen, wissenschaftlichen Erkenntnisse, gefühlten Eindrücke wabern schwer fassbar durch die Zeitungen. Ein Haus kann man ausmessen, einen soziologischen Raum erfassen, mediale Räume wie „das Virtuelle“ benennen. Aber die Luft entzieht sich (sofern sie nicht eingefärbt wurde) dem Betrachter und jede phänomenologische Beobachtung schwankt.

Die Luft, der „Luftraum, hat keine strikt definierten Grenzen, der Raum atmet und verflüchtigt sich. In der Antike war der „kosmos (…) begrenzt“. „Ausdehnung ‚konnte‘ keine begriffliche Grundlage von Räumlichkeit sein.“ Ist das Wort Luftraum also trügerisch, da schwer fassbar? Man kann den Luftinhalt eines Raumes in Kubikmetern messen, die Sauerstoffkonzentration analysieren. Dadurch ist aber kein Schritt in Richtung Peter Sloterdijk und seine sinnlich-spekulativen Ideen gemacht.

Als Konstruktionsproblem ist der Luftraum ein Sonderfall, weil er nicht geschaffen, sondern lediglich modifiziert, angereichert wird. Sloterdijk nimmt an, dass im Zwanzigsten Jahrhundert ein Umdenken stattgefunden hat. Trat man zuvor sorgenlos ins Freie, war dieses Freie plötzlich bedrohlich (Gaskrieg, Holocaust) oder wurde urplötzlich wirtschaftlich, für die modernen Zirkulationssphären relevant (Klimaanlage, Atmodesign in Kaufhäusern). Man reflektierte über „Luft“.

René Descartes‘ Weltbild kennt die (Denk-)Unmöglichkeit eines leeren Raums und sieht Raum als substantielles Kontinuum an: „Wo es Ausdehnung oder Raum gibt, dort gibt es notwendigerweise Substanz.“ Er unterscheidet zwischen der materiellen Dingwelt außen und einer inneren Welt der Vorstellungen. Einerlei, ob diese Substanz Gott oder Äther ist: Designte, von den (manipulierten) Sinnesorganen wahrgenommene Luft, oder eher mit Stimulanzien aufgeladene Luft (materiell) beeinflusst direkt unsere Vorstellungen.

Das Riechorgan mündet im Stammhirn, ist der direkte Kanal und damit die Brücke, zwischen außen angelegtem Raum und in Gedanken materialisierten Vorstellungen. Ich kann die Augen schließen und der Raum verschwindet. Aber für die Ausschaltung, Wegblendung der feinstaubigen Atemluft reicht kein Zuhalten der Nase. Man benötigt dafür mindestens eine Atemmaske, die wiederum einen Raum umfasst und als Ersatz fungiert. Die Vorstellung entkommt dem Duft nicht. Der Luftraum ist überall, er durchdringt das Wesen vehement. Raumdesign funktioniert unmittelbar.

Der Luftraum entzieht sich, das kann abschließend festgehalten werden, vielen bekannten Raumtheorien, Raumerklärungen, Raumausmessungen, weil er einen flüchtigen Modus beschreibt. Die Entdeckung des Luftraums im 20. Jahrhundert, die zahlreichen Experimente, belegen zweierlei:  Hier wurde Neuland betreten, ein zuvor nicht beachteter Raum okkupiert. Salvador Dalí markierte dem Publikum durch sein Auftreten im Taucheranzug bei einer Vernissage in London, „daß er als Vertreter eines radikalen Anderswo und im Namen des Anderen zu ihnen rede“ Aufgrund unzureichender Luftzufuhr erstickt Dalí beinahe während des Vortrags vor seinen Fans und die hilflosen, von etlichen Grimassen begleiteten Versuche, sich aus dem selbst geschaffenen Klima zu befreien (Helm abschrauben, Anzug aufstechen) wird als Mimodrama fehlinterpretieren.

Man kommt mit und im neuen Klima nicht klar. Es herrscht weiterhin Unsicherheit, wie diesem neuen Raum und den neuen Versuchen in diesem Raum begegnet werden soll. Das Virtuelle, konstruiert aus Nullen und Einsen, ist uns dank seiner graphischen Oberfläche (trügerisch) nah. Bisweilen wird das Virtuelle als möglicher Zufluchtsort vor der realen Welt in Betracht gezogen. Der Film „Matrix“ stellt hier nur eine popularisierte Form der Simulakrum-Idee Jean Baudrillards dar.

„Second Life“ ist natürlich kein Substitut, kein Zweitraum, ist eigentlich eine Utopie, ein Nirgend-Ort. Das atmosphärenlose Second Life erscheint uns als Kosmos, ist aber lediglich ein Programm, das sich hinter bunten Masken verbirgt. Aufgrund der Farb-Charade, dem Kostüm, orientieren sich beinahe alle Berichte über die neue Welt am Faksimile-Gedanken: Das Programm als (scheinbares) Abbild unserer Welt. Aber wo keine Atmosphäre ist, da kann kein Lebewesen sein. Diese evidente Erkenntnis hat sich trotz Atmoterror, Gasdesign und Luftrevolution nicht in den Köpfen festgesetzt.   

Der Ort „Second Life“ verschließt sich unseren bisherigen Raumerfahrungen vehement. Das Virtuelle ist uns ferner als der Luftraum. Das mediale Rauschen täuscht. Wir ersticken in virtuellen Taucheranzügen, während das Geoklima implodiert. Nur wer den Luftraum berücksichtigt, kann den Menschen und seine Zukunft dazudenken. „Denn der Mensch ist ja, wie alles andere, ein Zögling der Luft.“

Glossar

Gas: (niederl.) zu griech. cháos >leerer Raum, Luftraum<, Materie im gasförmigen Aggregatzustand, welche sich frei im Raum bewegen kann.

Umwelt: die Gesamtheit aller direkt und indirekt auf einen Organismus, eine Population oder eine Lebensgemeinschaft einwirkenden biot. und abiot. Faktoren einschließlich der Wechselwirkungen. Der Terminus Umwelt wurde 1921 durch J. von Uexküll als zentraler Be-griff der Ökologie eingeführt; nach ihm bezeichnet er die spezif. lebenswichtige Umgebung einer Tierart.

Gesellschaft: Vom etymolog. Beleg aus bedeutet G. das Zusammenleben, die auf zeitl. Dauer angelegte Interdependenz von Menschen (Lebewesen) die durch die gemeinsame Teilhabe an einem Raum konstituiert wird.

Beitragsbild: Britische Soldaten mit Gasmasken

DÜNNE, Jörg/ GÜNZEL, Stephan (Hrsg.): „Raumtheorie“ S. 19, Suhrkamp 2006. / HERDER, J. G.: „Schriften. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, hg. von Walter Flemmer, München 1960, S. 78-79. / LAHUSEN, Caroline: „Der Tod aus dem Labor“, GEO Epoche, 01.09.2004. / MOLL, Sebastian: „Eine gute Nase“, Frankfurter Rundschau, 13.09.2006. / NICKEL, Eckhart: „Duftprobe“ in Süddeutsche Zeitung Magazin, 05.05.2006. / PSIHOYOS, L.: „Der Duft der Lust“, Süddeutsche Zeitung, 14.09. 2006. / SCHEELE, Markus: „Dufter Gedächtnisanker stärkt das Firmenimage – Gute Gerüche in Verkaufsräumen und auf Prospekten locken Kunden an“, Handelsblatt, 31.08.2006. / SLOTERDIJK, Peter: „Luftbeben – An den Quellen des Terrors“, 1. Aufl., Suhrkamp, Frankfurt/M 2002. / WIBONG, Susanne: „Immer der Nase nach“, NZZ 10.09.2006.

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