VIER x Magazine

Die schönsten (Literatur-)Magazine des Jahres 2010 im Überblick. Und zum Plateau-Studio, wo das oben abgebildete „Dummy“-Buch entstanden ist, geht es hier.

EINS Das Klagen hat Gott bereits dem frommen „Hiob“ untersagt. Daran erinnert ein Anti-Jammer-Aufsatz in der aktuellen Ausgabe des Popkulturmagazins „Testcard“ und schlägt vor: Lassen auch wir das Weinen sein; obwohl Musiker von jedem iTunes-Download gerade mal 4,5 Cent sehen. Obwohl bildende Künstler unter Vierzig in Deutschland 11160 Euro im Jahr verdienen. Obwohl E-Books massenweise gehackt und kostenlos zum Download bereitgestellt werden. Aber Armut ist nicht gleich Armut. Man hat herausgefunden, dass Künstler mit weniger Geld glücklich sind als gewöhnliche Arbeitnehmer. Und öffentliche Töpfe fördern weiterhin – zum Beispiel für „Integrationsmaßnahmen“. Wer als Künstler Kasse machen will, hübscht seinen Förderantrag einfach auf. Zur Not organisiert man „kreative Stadtführungen“ durchs eigene Viertel – wie es ein Kunstverein im Berliner Stadtteil Wedding längst anbietet. Großes Thema, viele Vorschläge: Diese „Testcard“-Ausgabe kommt zur rechten Zeit. (Testcard: „Überleben“, Ventil Verlag, 334 Seiten, 15 Euro)

ZWEI „Jedes Mal neu. Jedes Mal anders“ – mit diesem Slogan wirbt das Zeitgeistmagazin „Dummy“ für ein ganz besonderes Konzept: Seit 2003 wird jedes Heft von immer neuen Grafikern, Journalisten und Autoren gestaltet. Nachdem Dummy viele Designpreise gewonnen hat, erschient jetzt das große Dummy-Buch mit „dem Besten und Schlimmsten aus 30 Mal Magazinmachen“. Darunter:  Der Besuch in einer Behinderten-Disko oder auch eine Proll-Busreise nach Lloret de Mar, wo der schöne Trinkspruch archiviert wird:; „Wir wollen Schnaps, wir wollen Bier, auf Arbeitsplätze scheißen wir.“ Dieses Buch ist wie eine Geburtstagsparty. Dummy bleibt anders, selbst beim Thema Sex, mit einer Geschichte über Homosexuelle Araber unter dem Titel „Allahs ist groß“ oder auch mit dem anrührenden Portrait einen Exhibitionisten, den ein Team auf seiner „Pirsch“ begleitet hat. Zusammen mit den 1:1-Abdrucken aus dem Heft, den vielen Bildern und den bizarr chemisch riechenden Papierseiten ist „Das große Dummy-Buch“ eine les- und blätterbare Alternative zum Magazinschund, der einem sonst an jeder Tanke oder Bahnhof anfixen will. (Oliver Gehrs (Hg.): „Das Dummy-Buch“, Kein & Aber, 496 Seiten, 24,90 Euro)

DREI Als “Tippgemeinschaft“ stellen sich die Studenten des Deutschen Literaturinstituts Leipzig (DLL) vor. Sie lernen, wie man gute Texte schreibt. Sie zeigen mit ihrer Anthologie, dass das auch klappt. 37 (Nachwuchs-) Autoren, Der Jüngste aus dem Jahrgang 1988 (Janko Marklein), der Älteste 1974 geboren (Gerald Ridder). Sie erzählen in Gedichten, Stücken, Stories von Söhnen, die unter dem Kameraauge eines Anwalts monatlich Papas Grab aufräumen, um weiterhin aufs Erbe zugreifen zu können, von “Parkour“-Rennen, einer Putzfrau im Frauen-Fitness-Studio und von gefrorener Spucke, die sibirische Hälse von innen aufschlitzt. Bierflaschen fallen vom Balkon. Himmel und Hölle teilt leise die Luft. Vorsatz: “Bis September noch schwul werden.“ Mit dabei in der Gemeinschaft: Roman Graf, der mit “Herr Blanc“ 2009 ein überaus erstaunliches Debüt abgeliefert hat und der ebenfalls schwer begabte Andreas Stichmann (”Jackie in Silber“). (“Tippgemeinschaft 2010“ – Die Jahresanthologie des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, 210 Seiten, 14 Euro)

VIER Seit 2007 veröffentlicht die deutsch-türkische Künstlergruppe „m-a-u-s-e-r“ aus Stuttgart ihr „Junk Jet“-Magazin in sehr losen Abständen, unterschiedlicher Aufmachung und inhaltlichen Gewichtung (das beliebte DUMMY-Prinzip). Der Name ist zusammengesetzt aus dem Begriff für Schrott oder Kram und dem schnellen Transportmittel eines Düsenjets oder eines Jet-Zuges. Das Projekt begleitet laut Asli Serbest, eine der beiden Herausgeberinnen, „die künstlerische Kultur digitaler Medien“. Heft #6 aus dem Jahr 2013 (12 Euro) beschäftigt sich mit der Lokalität, angeschaut von Mitarbeitern wie dem New Yorker Videokünstler Alejandro Crawford, der Französin Clement Valla, die mit algorithmischen Systemen arbeitet oder auch dem Londoner Architekt Tomas Klassnik. Auf höchst verschiedene Weise beschreiben sie Wahrnehmungsveränderungen, die durch unser modernes elektronisches Leben entstanden sind. Es gibt freigestellte Google Warehoouse-Gebäude, die zu fiktiven Städten zusammengebaut wurden. Das Projekt Crystallize and Emboss arbeitet mit Photoshopfiltern, die über normale Landschaften gelegt werden, auf gleiche Weise wie Google Maps „important strategic objects“ kaschiert. Es gibt einen Aufsatz über Öffentliche Bibliotheken, hier bezeichnet als „New Modern Ruins“. Teil der neuen Junk Jet-Ausgabe ist zudem ein knapp 60-minütiges „Mexican Jihad Mixtape“, mit südamerikanischen Electromusikern, die auf überaus klangvolle Namen hören. Vertreten sind DJ Nombre Apellido, Pájaro Sin Alas oder, absolutes Highlight: Nesstrak feat Mock the Zuma. – „Junk Jet“ spült Hirn und Gehörgänge durch. Abseitig. Aber cool.

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