VIER x Kunstszene im Buch

Sarah Thornton, die als eine der hippsten Akademikerinnen Großbritanniens gilt und vor ein paar Jahren mit einer Studie über Londons Technoszene für Aufregung sorgte, jettet innerhalb eines Jahres durch die Kunstszene. Jonathan Meese räsoniert über Deutsche Mythen. Mit Gisela Getty und Jutta Winkelmann gibt es einen wilden „Montezuma Flash, Montezuma Crash“ und Tracey Emin stellt ihr „Strangeland“ vor.

41TBw2PD04L._SX302_BO1,204,203,200_EINS „In der Clubwelt gibt sowohl coole, als auch absolut uncoole Musik“, sagt Sarah Thornton im Interview. „Und mich fasziniert der Unterschied, der einem Außenstehenden ja oft total unverständlich ist. Mich interessieren die vielen kleinen Details, die diesen Unterschied ausmachen. Die Kunstwelt bietet genau das. – Von einer Christie´s-Auktion über Takeshi Murakamis Atelier (das ist der Pop-Art-Japaner, der für Marc Jacobs die Luois-Vuitton-Taschen designt hat) geht es für die Wissenschaftlerin zum Studenten-Crit-Seminar in Kalifornien. Auf der wichtigen Kunstmesse “Art Basel” erlebt Thornton dann die wahrscheinlich skurrilste Szene ihres Erlebnisbuchs “Sieben Tage in der Kunstwelt”. Im 5-Minuten-Takt landen die Privatflugzeuge millionenschwerer Sammler. Irgendwann steigt eine ältere Dame aus und beichtet Sarah, dass sie sich wahnsinnig dekadent fühlt, sobald sie ganz allein in ihrem Flugzeug sitzt und sagt dann, sie sei wirklich erleichtert gewesen, “als zwei Kuratoren bereit waren, mitzufliegen.” – Wer auf abstrusen Gossip aus dem wahnsinnigen, schwer gehypten

Kunstkosmos abgreifen will, ist hier genau richtig. Und keine Angst vorm Künstler; auch wer nie eine Ausstellung von Jonathan Meese oder Gerhard Richter besucht hat, kommt seine Kosten. (Sarah Thornton: „Sieben Tage in der Kunstwelt“, übersetzt von Rita Seuß, S. Fischer, 320 Seiten, 18,95 Euro)

12656_MeeseZWEI „Adolf Hitler war der totale Bühnenmensch und durfte nicht in die Realität gezogen werden. Adolf Hitler hat nicht das Volk verführt, sondern das Volk hat Adolf Hitler verführt. Adolf Hitler ist Quadratur des Kreises und Kunst muss radikaler sein als Adolf Hitler. Sonst existiert nur Systemillustration. Adolf Hitler ist Spielzeug der Kunst, ist ein Stofftier, das weggekuschelt werden muss.“ Provokation, die an frühen Punk erinnert bildet die Geschäftsgrundlage des Kunst-Weltstars Jonathan Meese („geboren 1970 in Tokio, Künstler, Autor, Ameise der Kunst.“ – Selbstdarstellung) Gemeinsam mit Robert Eikmeyer („geboren 1963 in Bückeburg, Autor, Verleger, Hornisse der Kunst“) präsentiert Meese nun einen schwarzen Suhrkamp-Klotz, der schwer im Bücherregal steht. Rätselhaft wie der Monolith aus Stanley Kubricks SciFi-Blockbuster „2001“ kommen die „ausgewählten Schriften zur Diktatur der Kunst daher“, mit Abschweifungen und viel Nonsens über Körpersäfte und Nibelungenlied-Helden, über Deutsche Mythen, Drogen, Tod und „das Ultraspiel der Antirealitäten“.

Inklusive „Tierbaby-Manifest der Totalkunst“. (Jonathan Meese: „Ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst“, Suhrkamp, 662 Seiten, 29,90 Euro / Obiges Beitragsbild von Jan Bauer/Wikipedia)

bb-twins-cover-540DREI Heroin Chic, Sonnenanbetungen, Brüste und Bohème, Burroughs und Bazon Brock. Ein wilder „Montezuma Flash, Montezuma Crash“ (Paul Getty, 1975). „Sie malen ein wenig, schauspielern ein wenig, schreiben und modeln ein wenig, sie sind arm aber sexy, analoge Vorläufer der heutigen digitalen Bohème.“ Als Mitläuferinnen der 68er-Bewegung sind die Zwillingsschwestern auch „Weltstars in spe“, zwei It-Girls, die nun musealisiert werden. Im Bildband tauchen auf: Rolf Zacher, Uschi Obermaier, Rainer Langhans, Wolf Wondratschek, Leonard Cohen. Dazu kommt Alexander Schimmelbuschs literarisches Vorwort. Der ausgezeichnete, bisher nicht als 68er-Spezialist bekannte Schriftsteller („Blut im Wasser“) gelingt auf vier Seiten eine wortgewaltige Kurzbiographie, in der er die prächtig vernetzen Twins

als Erfinder des Facebook-Prinzips outet, „zu einer Zeit, als man seine Freunde noch anfasste, oder auch ableckte.“ (Gisela Getty & Jutta Winkelmann: „The Twins“, Blumenbar, 258 Seiten, 49,90 Euro)

tracey-eminVIER Irgendwann taucht dann Tracey Emin auf, die türkischstämmige Britin, die 1999 in die renommierte Turner-Pize-Ausstellun aufgenommen wurde: mit ihrer Installation “My Bed”,. Dieses benutzte, durchgewühlte, mit Sperma- und Blutflecken besudeltes Bett, hat Tracey sofort in die „Must Have“-Top Ten katapultiert. Zu ihren Sammlern gehören Madonna und David Bowie. Jetzt endlich veröffentlich Emin ihre Texte der vergangenen 25 Jahre, “Strangeland” heißt die durchgerüttelte, autobiographische Compilation des Münchner Blumenbar-Verlags, in der Tracey auf beinahe jeder Seite von abwegigen Sexabenteuern berichtet. Es geht um ihren ständig abwesenden Vater und um ihre alleinerziehende Mutter, die völlig überfordert ist mit der Betreuung ihrer Kinder. Auf der ersten Seite steht deshalb auch süffisant: “In Liebe für Mum und Dad. Danke, dass ihr mich so unabhängig gemacht hat.” Unabhängig und erwachsen war Tracey viel zu schnell. Als Teenager wurde sie missbraucht. Viele Sexszenen berichten von ihr als 12-, 13-, 14-jährige.

Folgerichtig gibt es in “Strangeland” auch einen Anweisungstext, was Frauen zu beachten haben, wenn sie urplötzlich schwanger werden. Um Kunst geht es weniger. Aber wer die Künstlerin Tracey Emin verstehen will, ist mit dieser übersexualisierten, tatsächlich schonungslosen Beichte bestens bedient. (Tracey Emin: „Strangeland“, übersetzt von Sonja Junkers, Blumenbar, 17,90 Euro)

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1 Kommentar

  1. :-) Da hast du dir schöne Beispiele herausgesucht. Gestern haben wir im Seminar „Kunst und Skandal“ über Tracey Emin und die Sensation Ausstellung gesprochen.

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