Szegedin ohne Kraut

Nicol Ljubic („Meeresstille“) und Marc Degens („Das kaputte Knie Gottes“) sind Teil der wunderbaren Reihe „Little Global Cities“. Im Bielefelder Kerber Verlag werden 12 osteuropäische Städte vorgestellt – mit aufwändig gestalteten Büchern, die zu Recht in „führenden Buchhandlungen und Museumsshops“ angeboten werden. Ein Blick in den aktuellen Band über Szeged (Ungarn). 

Noch liegt die Brechstange in der Fahrerkabine der Straßenbahn. „Vor der Endstation bremst der Wagen quietschend, er ruckt und bleibt holpernd stehen. Der Fahrer schwingt sich aus der Kabine, in der Hand die Brechstange. Die erste Tür geht auf, Brechstange raus, Weichen stellen, Tür wieder zu.“ Die EU fördert den Ausbau der uralten Stadt seit Jahren. Doch bis der Kapitalismus endgültig angekommen ist, bis die Einwohner steril werden, „mit strahlendem Comiclächeln“, ist Szeged ein gegensätzlich geprägter Ort. Daran erinnert der einheimische Schriftsteller Zoltán Bene in der aktuellen Ausgabe der „Global Cities“-Reihe. Sie widmet sich der 170.000 Einwohner zählenden Stadt an den Flüssen Mieresch und Theiß, die ich bislang nur vom gleichnamigen „Szegediner Gulasch“ kannte. Es schmeckt übrigens großartig mit Djion-Senf und man braucht Wodka.

Mit derartigen Nebensächlichkeiten halten sich die Autoren, Fotografen, Grafiker des „Szeged“-Buchs nicht auf – sie finden andere. Die Artikel zu verschiedenen Sehenswürdigkeiten (Synagoge, Palais Reök, Anna-Bad) werden als Miniaturgeschichten staunender Besucher erzählt: „Zur Goya- und Blake-Ausstellung gingen sie noch als Freunde. Dann erzählte der Junge – ein verlegener Philologiestudent, dem das Mädchen gefiel – wie die wuchernde Liane auf den Balkon gelangt war.“ Unweigerlich kommt Joseph Eichendorff in den Sinn, mit seinen spätromantischen Zeilen: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“

Das Nachtleben (viel Punk, viel Dark Metal, dazwischen Drum & Bass) beschreibt wiederum Lásló Kiss wie im Rausch. Die vielen Fotos wirken ausnahmsweise nicht wie rauskopiert aus Sprachlehrbüchern – Szeged darf dreckig, die Clubbesucherinnen betrunken, die Bildausschnitte möglichst trist gewählt sein (wie in den frühen „jetzt“-Magazinen der Neunziger). Der Blick auf die Stadt ist nicht nur in den verschiedenen Gedichten lyrisch. Das aufgeräumte, nie überstylte Design wird von Zeichnungen durchbrochen. Die serifenlose Schrift, der Flattersatz, die Mischung weiß- und lachsfarbener Seiten strukturieren dieses sehr kurzweilige Buch, das sich anfühlt wie ein Mitbringsel oder eine gehobene Publikation zur Vorrecherche. Denn mitnehmen, beim Bummel vom Stadtwäldchen zur Eisenbahnbrücke beispielsweise, möchte man „Little Global Cities“ nicht. Dafür ist es zu edel, zu schön und schwer. Weckt Sammelbegehrlichkeiten.

„Little Global Cities: Szeged“, dreisprachige Ausgabe, Kerber Verlag, 182 Seiten, 19,95 Euro

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