Rezension: Sprengsirenenlektüre

Da können Essen, Duisburg, Bochum, Dortmund noch so viele Theaterfestivals, Lesemarathons oder internationale Kunstausstellungen organisieren – das Ruhrgebiet bleibt immer dem Bergbau verbunden, den Sprengsirenen, den Taubenzüchtern und Trinkhallen.

„Zu Hochzeiten waren schätzungsweise 3600 Anlagen in Betrieb. Doch bereits um 1960 machten Erdöl und billige Importe den Kohleabbau zunehmend unrentabel. Wenn die Milliardensubventionen für die deutsche Steinkohleförderung 2018 auslaufen, wird wohl die letzte der noch verbliebenden vier Zechen in Nordrhein-Westfalen schließen.“ So steht es im Vorwort des Sammelbands mit dem schönen Titel „Ruhrgebietsbuch“, der gerade im Berliner Verbrecher Verlag erscheint.

27 Geschichten wurden von Markus Weckesser aus Essen und „Verbrecher“-Verleger Jörg Sundermeier zusammengestellt, der mit „Bremenbuch“ (mit Sven Regeren und Tanja Drückers), „Hauptstadtbuch“ (mit Kola Mensing und Tanja Drückers) und ähnlichen Veröffentlichungen, von Frankfurt bis Bielefeld, seit Jahren Lokalpunkte sammelt. Der neue Band erzählt von unterschiedlichen Phänomenen wie Herbert Grönemeyers Bochum-Hymne, einem Abend am Tresen im Haus Schulte des Bochumer Stadtteils Wilhelmshöhe, vom klassenkämpferischen Ruhrpott-„Robin Hood“ Korte und, selbstverständlich, von den obligatorischen Fußball- und Clubszenesamstagen mit viel Bier im Regionalexpress.

Ein Segen, dass keine Geschichte ins Comedyfach abrutscht, selbst dann nicht, wenn Regisseur Alexander Kluge mit Helge Schneider (in seiner Rolle als arbeitsloser Stahlarbeiter Atze Mückert) über Karl Marx philosophiert: „Joh, da lernste einiges, nä. Wenn man sich da für interessiert hat. Ich hab ja Zeit meines Lebens, weil ich ja auch selber Arbeiter bin, hab mich aber auch natürlich für die Bücher von Karl Marx interessiert, nä. Dat is ja ’nen Genie … Lass ma überlegen, wann is der geboren?“ Schauspielhaus-Pförtner und Suhrkamp-Autor Wolfgang Welt erinnert an Wilhelm Welt, „ein Onkel meines Vaters, ein richtiger Pollack, wie meine Mutter sagt. Wenn der wissen wollte, wie spät es ist, fragte er immer, was hast du Uhr auf Tasche?“ Und Lokalprominenz wie der Übersetzer und selbsternannte „Ruhrgebietsbulgare“

Thomas Frahm aus Duisburg und Sofia, Christine Klingel vom Ringlokschuppen Mülheim an der Ruhr, Schriftsteller Andreas Mand („Grovers Erfindung“) aus Essen oder auch Pop-Autor Enno Stahl aus Neuss beteiligen sich hier an einem Ruhrpott-Archiv, das von Zechenbecken und Taubenzuchtvereinen erzählt, von „Starlight Express“ und den großen Debatten während früherer Theatertage in Mülheim. „Denn hier zeigte sich, was Theater sein kann, sein soll: eine öffentliche Angelegenheit. Und es erschien damals viel radikaler, umfassender und einfach viel cooler als die Opposition à la Kelly & Ditfurth, aber auch intelligenter als die selbst ernannten Autonomen, mit ihrer in Vorurteilen einbetonierten Gesellschaftskritik.“

Als Katharina Thalbach energisch ein Stück ihres Lebenspartners Thomas Barsch verteidigte, als die Luft schwer, die Zechen noch Industrie, nicht Denkmäler waren und Wurst da war, „wie Sand am Meer“ (im Beitrag „Oberhausen Sterkrade“ von Radek Krolczyk) – „Bauern- und Kümmelkrakauer, gebratene Graupenwurst, Baleronschinken und heller Presskopf neben vorgeschnittenem Graubrot und Kartoffelsalat mit Ei.“ – Im August 2011 aber wirbt das das Restaurant „Casino Zollverein“ in Essen mit dem französischen Chardonnay Nicolas Potels Macon Villages, „cremige Fülle in sensibler Mineralität“ und so genannter „New World Cuisine“, als Zeichen der „Sehnsucht nach einer neuen Ordnung, nach einer Neuen Welt, in der Menschen ihre Ideen und Wünsche verwirklichen können.“ Zeiten ändern sich. Geschichten bleiben – und jeder kann selbst entscheiden, ob er für 12 Euro dieses wunderbare Ruhrgebietsbuch kaufen mag, oder im „Casino Zollverein“ einmal Vorspeisen-Carpaccio vom Kalbskopf (mit Trüffel, Rettich, Amalfi Limette, Schafgarbe“ bestellt.

Jörg Sundermeier, Markus Weckesser: „Ruhrgebietsbuch“, Verbrecher Verlag, 224 Seiten, 12 Euro

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