Rezension: Tödliche Melodien

Großschriftsteller Helmut Krausser schreibt mit „Alles ist gut“ einen brachialen Roman über Töne, die den Tod bringen, über die fatale Täuschung des Genies und selbstverständlich auch über sich selbst. 

Der Schweizer Peter Stamm erzählte mir vor einigen Jahren auf Sylt, er schreibe stets zwei Romane hintereinander – einen für die Schublade, einen zur Veröffentlichung. Die schlechteren Fassungen seiner Literatur bekommen wir nie zu Gesicht. Ganz anders sieht die Sache bei Helmut Krausser aus, der ebenso viele großartige („Fette Welt“) wie verwirrend misslungene („UC“) Bücher auf den Markt geworfen hat, gern in verschiedenen Verlagen: Knaus, List, Luchterhand, Rowohlt, Dumont, nun also „Alles ist gut“ im Berlin Verlag. Nach einer Novelle, nach Erzählungen, Gedichten, Krimis erscheint morgen der lang erwartete neue (und verdammt gute) Krausser-Roman. Es ist ein Buch, das in seiner sprachlich-barocken Wucht an frühe Vorgänger wie eben „Fette Welt“ (1992, verfilmt mit Jürgen Vogel) und vor allem an „Melodien“ (1993) erinnert.

Natürlich kommt eine Frau vor, allerdings nicht so ein junges Ding wie in „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ (2009), sondern stattdessen die zirka 60-jährige Tamara, eine Blondine im preußischblauen Jogginganzug, die Marius Brandt, einem gescheiterten Komponisten, aus Dankbarkeit und völlig überraschend ein fatales Geschenk überreicht: Noten. Musik. Eine Melodie.

Dieser Marius Brandt, selbst ernannter „Tondichter“ klassischer Musik, die niemand will, ist im Krausserschen Sinne gescheitert; umfassend, radikal, ohne Hoffnung. Marius Brandt ist künstlerisch, menschlich, finanziell bankrott. Mit leeren Taschen steht er da, immer noch überzeugt vom eigenen Genie, obwohl ihn die Opern- und Orchesterszene längst vom Hof gejagt hat. „Ich mußte den Taxischein machen. Seit zehn Jahren lebe ich von von der Hand in den Mund, von den Krümeln, die vom Tisch fallen. Und ja, es ist besser geworden, es gibt inzwischen wieder einige spannende tonale Komponisten. Aber keiner von denen hat es bisher gewagt, eine ‚konventionelle‘ Oper zu schreiben, mit spannender Handlung, die notfalls auch als Theaterstück funktionieren würde, und einer durchgängig überwältigenden Musik, die man unmittelbar noch einmal und dann immer wieder hören möchte.“

Ein Portrait des Autors als Musiker. Krausser komponiert selbst seit Jahrzehnten mit großer Hingabe und es wäre interessant zu erfahren, ob er seinen Noten eine ähnliche Brillanz bescheinigt wie Goethe jener „Farbenlehre“, die der Dichterfürst als das Größte rühmte, was er, trotz „Faust“ und „Wanderers Nachtlied“ geschaffen hat. „Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein. […] Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute […].“ Immerhin hat diese niemanden umgebracht, während „Die Leiden des jungen Werthers“ eine Welle an Selbstmorden provozierte. Der sogenannte „Werther-Effekt“ ist ein feststehender Begriff für „medien-induzierte Selbsttötung“ (-> Robert Enke usw.).

Goethe, Werther, Geniekult, tödliche Kunst – in diesem Spannungsfeld hat Krausser seine Geschichte angelegt. Die Noten um die es geht sind alt, über die Jahrhundert zu ihm gelangt. Es sind Noten, die besser niemals gespielt würden. Denn sie bringen den Tod,  das Vernichtung, das Verderben. Marius Brandt muss das ebenso entsetzt wie fasziniert feststellen, als er Teile der ihm zugeeigneten Partitur in eine seiner Kompositionen integriert. Bei der Uraufführung brechen mehrere Menschen im Publikum zusammen.

Wenig später kommt zudem der Dramaturg Bornstedter ums Leben, mit dem Brandt lange im Kontakt gestanden hatte. Die Polizei mag den Komponisten verdächtigen, kann aber schwerlich behaupten, hier habe sich jemand magischer Techniken bedient, um den Opernangestellten zur Strecke zu bringen. „Jahrelang hat Bornstedter Sie immer wieder vertröstet. Und Sie sind immer höflich geblieben. Übrigens sind Sie nicht der einzige. Einen ähnlichen Mailverkehr pflegte er mit noch etwa sechzig anderen Komponisten, denen er nie ein einziges Mal ab- oder zusagte. Er war anscheinend ein Sadist, von zuviel Langeweile geplagt.“ Kann fehlende Anerkennung aus Künstlern Mörder machen?

„Alles ist gut“, der Titel ist angelehnt an eine Stelle aus Friedrich Hölderlins „Hyperion“ (‚Alles muß kommen, wie es kömmt. Alles ist gut.“), spielt geschickt mit hoch- und popkulturellen Mythen, die nicht erst seit Arthur Schopenhauer die Musikästhetik begleiten. Man könnte nun von „Gloomy Sunday“ sprechen, dem Selbstmörderlied des ungarischen Pianisten Rezső Seress, oder auch von Richard Wagner, von den Posaunen Jerichos und von den Merseburger Zaubersprüchen, von Backmasking, dem Rattenfänger von Hameln und von dem musikalischen Leitmotiv im Kinofilm „Inception“. Jedem fallen schnell weitere Beispiele ein für magische Zuschreibungen jener Art.

Gleichzeitig erzählt „Alles ist gut“ nicht nur von Magie, sondern auch vom Leiden vielzahliger Künstler, die ihr Leben hingaben für Ideen, Phantasien, Konzepte, die nie in einen Kanon eingegangen sind. „Wenn man mal einen Nachmittag nichts zu tun hat und einen Besuch in der Stadtbibliothek macht, kann man in den gebundenen Jahrgängen alter Musikzeitschriften aus dem 19. oder gar 18. Jahrhundert lesen. Man kann viel Freude und Erstaunen daraus gewinnen, verfolgt man die Spekulationen darüber, was kommen und was bleiben wird. Und kann sich lustig machen darüber, wieviele Menschen ihre Lebensenergie damit vergeudet haben, Theorien der Tongeschlechter aufzustellen, eine Art von komplexem harmonischem Regelwerk, das innerhalb einer Melodie mit Begleitung klar definiert, welche Akkordbezüge, welche Intervalle RICHTIG seien und welche NICHT.“

Was bedeutet die Kunst, wenn keiner applaudiert? Lässt sich Hingabe rechtfertigen, obwohl das Werk am Ende wie Lebenszeitvergeudung angesehen wird? Es ist die große Lebensleistung Kraussers, dass er es mit jedem neuen Buch wagt, ebenso hochgelobt wie fürchterlich verrissen zu werden. Mit Netzen und doppelten Böden arbeitet dieser Mann nicht. Das zahlt sich 2015 mal wieder aus. Es gelingt ihm, die weiten, düsteren Räume zu öffnen, in die jedes seiner Bücher zu gehen versucht, es gelingt ihm vollumfassend, selbst an seinem ebenfalls typischen Altherrenhumor kann man, da dieser in der Figur Brandts angelegt ist, seine Freude haben. „Im Bett war June die eierleckende Wollmilchsau. Mit wollmilchsäusisch meine ich: Sie machte alles, was ich begehrte und machte es gut und sehr gern. Eine solche Frau war mir nie zuvor begegnet.“

In „Alles ist gut“ spielt Krausser auf subtile Weise mit dem Wissen seiner Leserschaft und führt eine Barockoper auf, die noch das Unwahrscheinlichste möglich werden lässt. Hier hat die Literatur ihren eigenen Wahrheitsgrund, hier ist die Sprache stets auf Höhe des Geschilderten, trotz allen Größenwahns. Wen wundert es, dass sogar Mephisto seinen großen Auftritt hat? Sie ist wieder da, die Sehnsucht nach einer „Fetten Welt“ – und jedenfalls bis zum nächsten Buch kann sich Krausser fühlen wie einer der „Könige über dem Ozean“. Es sei ihm gegönnt.

Helmut Krausser: „Alles ist gut“, Berlin Verlag, 240 Seiten, 15,99 Euro /

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