Rezension: „Nacht in Caracas“

Venezuela könnte eines der reichsten Länder der Welt sein, ein Musterstaat des modernen Sozialismus. Dort gibt es das weltweit größte Erdölvorkommen. Tatsächlich vegetieren inzwischen 90 Prozent der zirka 31 Millionen Einwohner unterhalb der Armutsgrenze. Brutal niedergeschlagene Proteste, eine autoritäre Regierung unter Präsident Nicolás Maduro, Engpässe in der Benzinversorgung, Sanktionen, eine Hyperinflation (2016 rund 800 Prozent, 2017 über 2000 Prozent und 2018 80.000 Prozent), der Rückgang der Wirtschaftskraft um mehr als 50 Prozent in den vergangenen fünf Jahren, organisierte Kriminalität und willkürliche Grenzschließungen lassen die Menschen fliehen.

Das deutsche Auswärtige Amt schreibt auf seiner Homepage: „Von nicht erforderlichen Reisen nach Venezuela wird abgeraten. Der Ausnahmezustand über das gesamte Land gilt bereits seit Mai 2016, der wirtschaftliche und medizinische Versorgungsnotstand besteht fort.“  – Was ist geschehen, seit Hugo Chávez 1998 seine „bolivarische Revolution“ ausgerufen hatte? Die 1982 in Venezuela geborene, seit zwölf Jahren in Spanien lebende Autorin Karina Sainz Borgo nähert sich den diktatorischen Zuständen ihres Heimatlandes mit dem literarischen Debüt „Nacht in Caracas“, das in über zwanzig Sprachen übersetzt wurde.

Paul Ingendaay nennt die Autorin in der F.A.Z. „eine Könnerin.“ Ralph Hammerthaler schreibt in der Süddeutschen Zeitung: „Wer würde heute ein Buch über das zerrissene Venezuela nicht lesen wollen?“ Im Deutschlandfunk-„Büchermarkt“ zeigt sich Peter Henning beeindruckt, sagt, Borgo „macht uns klüger und führt vor, wie großartig eine Literatur sein kann, die alles wagt – und sei es auf Teufel komm raus!“

Zu Beginn von „Nacht in Caracas“ wird die Mutter der Erzählerin beerdigt. Aus dieser Tragödie und der daraus folgenden Melancholie heraus wird von den zerrütteten Verhältnissen Venezuelas berichtet: „Das Bezahlen der Totenwache erwies sich als noch komplizierter, als die letzten Tage meiner Mutter in der Klinik zu bestreiten. Das Bankensystem war inzwischen Fiktion. Im Bestattungsinstitut gab es kein Kartenterminal, auch Überweisungen wurden nicht akzeptiert, und ich hatte nicht genügend Bargeld, um die ganze Summe zu begleichen, ungefähr zweitausendmal so viel wie mein Gehalt. (…) Ich entschied mich für die einfachste Lösung. Ich zog aus dem Portemonnaie den letzten Fünfzig-Euro-Schein, den ich vor Monaten auf dem Schwarzmarkt erstanden hatte, und reichte ihm dem Bestatter, der sich mit vor Staunen geweiteten Augen darauf stürzte.“

Nicht nur die Mutter, sondern das Weibliche an sich wird hier beerdigt. Entlang der Schicksale verschiedener Frauen werden die zerstörerischen Folgen einer größenmännlich-größenwahnsinnigen Politik erzählt. Haben sich die Bürgerinnen zu Beginn der Diktatur noch unterstützt, fand später eine schleichende Entsolidarisierung statt. Jede versucht nun aus der misslichen Lage ihrer Geschlechtsgenossinnen Vorteile zu ziehen, derweil marodierende Revolutionsbanden durch die Städte ziehen, Menschen verhaften, in Umerziehungslagern foltern, Studentinnen vergewaltigen, unterm Schutz des Regimes wahllos plündern.

„Nacht in Caracas“ unterscheidet sich von Innensichten aus dem bürokratischen Wahnsystem einer Diktatur, wie beispielsweise „Zweimal Juni“ des argentinischen Schriftstellers Martìn Kohan. Dieses Buch ist 2009 auf Deutsch erschienen, und in ihm lesen wir diesen Satz: „Ab wie viel Jahren kann man ein Kind foltern?“ Dieser Frage sollt ein junger argentinischer Rekrut nachgehen; allerdings haben die zuständigen Apparatschiks Besseres zu tun.

Es ist 1978, der Tag, an dem Argentinien im WM-Finale gegen Italien verlieren wird, ein Tag, an dem dieser Rekrut, wie der Rest des Landes, nur an Fußball denken will. Der Mann muss jetzt den einzigen Arzt auftreiben, der die bestialische Frage „Ab wie viel Jahren kann man ein Kind foltern?““ beantworten kann, eine Frage, die aus den Folterkellern der Militärjunta kommt. Der Arzt sitzt seelenruhig im Stadion, während an anderer Stelle – im ständigen Gegenschnitt erzählt – eine Mutter unter Folter um ihr Leben und um das ihres frisch entbundenen Babys kämpft.

Kohan gelingt, woran Borgo scheitert: Er evoziert mit literarisch knappen Mitteln ein Grauen, das sich nachrichtlich niemals vermitteln würde. Die Parallelisierung eigentlich nicht zusammengehörender Phänomene (Fußballgaudi und Folter), schafft einen allein literarisch möglichen Zugang; auch wenn sich der SPIEGEL in Claas-Relotius-Zeiten der gleichen Mittel bediente, natürlich, um eben diesen Effekt mit Fake-Journalismus ebenfalls herbeizuführen.

„Nacht in Caracas“ schreibt sich ein in die lange Tradition des hispanoamerikanischen „novela del dictador“, des Diktatorenromans, dessen Wurzeln im Jahr 1845 liegen, als Domingo Faustino Sarmiento den wegweisenden Essay „Barbarei und Zivilisation. Das Leben des Facundo Quiroga“ vorlegte, eine Kritik am tyrannischen Regime Juan Manuel de Rosas’ – bevor er, aus dem Exil zurückgekehrt, von 1868 bis 1874 als Präsident Argentiniens regierte, mit einer fortschrittlichen, an die USA angelehnten Wirtschaftspolitik, einem gigantischen Infrastrukturprogramm, mit der offensiven Förderung von Immigration. Sarmiento ist also, ebenso wie Borgo nicht unmittelbar Erlebender, sondern ein Exilant, der von außen anhand zahlreicher Berichte, seinen Text inszeniert; mit allen Schwierigkeiten, die eben jene Beobachtung Zweiter Ordnung mit sich bringt, was ihm bewusst ist, wenn er im Jahr 1845 in seiner Vorbemerkung zu „Barbarei und Zivilisation“ schreibt:

„Notgedrungen sind mir etliche Ungenauigkeiten bei meiner Arbeit unterlaufen, die in großer Eile und fern vom Schauplatz der Geschehnisse entstand und über deren Gegenstand bisher nichts geschrieben worden war. So verwundert es nicht, wenn beim Verknüpfen von Ereignissen, die sich in weit auseinanderliegenden Provinzen und zu verschiedenen Zeiten zugetragen hatten, beim Befragen von Augenzeugen, von der Durchsicht flüchtig verfaßter Handschriften oder beim Aufrufen eigener Erinnerungen eine Darstellung zustande gekommen ist, in der der argentinische Leser gelegentlich ein ihm unbekanntes Detail vermissen oder gegen einen Namen, ein Datum, die verändert oder falsch platziert wurden, Einspruch erheben wird.“

Es ist ein altes Phänomen: Entweder bleiben Künstler während einer Diktatur im eigenen Land, gehen freiwillig in die „innere Emigration“ oder harren mehr schlecht als recht aus (das betrifft die je sehr unterschiedliche zu bewertenden Fälle Gottfried Benn, Reinhard Jirgl, Herta Müller, Victor Klemperer, Alexander Solschenizyn) und veröffentlichen, wenn überhaupt, erst danach ihre heimlich gemachten Aufzeichnungen – oder sie schreiben aus dem Exil über die Verhältnisse im fernen Heimatland (von Heinrich Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ bis Ludwig Winders „Die Pflicht“)

Zu den neueren Werken des Diktatorenromans gehören „Santa Evita“ von Tomás Eloy Martínez, „Zweimal Juni“ des oben genannten Martín Kohan und „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ von Pulitzerpreisträger Junot Díaz (ebenfalls aus dem Exil). Im deutschen Sprachraum erzählt Jenny Erpenbecks „Wörterbuch“ aus der repressiven argentinischen Diktatur um 1980.

Das rohe, sprachlich schwer fassbare Entsetzen, das einen ergreift im Angesicht von Folter, Hinrichtungen, Verschleppungen, machen all diese Texte deutlich, mit einer je eigenen Sprache, die literarische Bilder findet – mal explizit realistisch, dann eher im Phantastischen zu verordnen. Das Grauen erzählbar zu machen ist eine Herausforderung, die Borgo mit abgegeriffenen Sprachbildern (der Geschmack im Mund ist „Metallisch“, Schuhe stehen aufgereiht „wie ein Trupp müder Soldaten“ usw.

Der Unterschied zwischen Journalismus und Literatur ist unter anderem zu finden in jener „höheren Wahrheit“, die anschlussfähig ist an eine raison du coeur. Das kann mit realistischen Verfahren erreicht werden, durchaus mit kaltblütigem Stil (Ferdinand von Schirachs Geschichten oder John Williams „Stoner“ bewegen Leser millionenfach, obschon sie zurückgenommen, pur, geradezu emotionslos referiert werden). Das kann gelingen vermittels eines einzigen Satzes („Ab wie viel Jahren kann man ein Kind foltern“), das kann gelingen als epische Beobachtung („Archipel Gulag“) oder als Parabel („Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“). – „Nacht in Caracas“ ist ein seltenes Buch aus dem gegenwärtigen Venezuela, das Historiker auch in hundert Jahren interessieren wird, dessen Halbwertszeit für die gegenwärtigen Leser allerdings bereits jetzt, im Januar 2020, abgelaufen ist.

Karina Sainz Borgo: “Nacht in Caracas”, aus dem Spanischen von Susanne Lange, S. Fischer, 224 Seiten, 21 Euro / Domingo Faustino Sarmiento: „Barbarei und Zivilisation: Das Leben des Facundo Quiroga“, ins Deutsche übertragen und kommentiert von Berthold Zilly, Andere Bibliothek, 460 Seiten, 32 Euro

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