Rezension: „Monsieur Pain“

Zu den herausragenden Vertretern des Magischen Realismus gehört der 2003 gestorbene Roberto Bolaño, der bald komplett ins Deutsche übersetzt vorliegen wird. Das neue Buch heißt „Monsieur Pain“ – und ist grandios.

Viele Schriftsteller haben ihren Ruhm nicht erlebt. „Moby Dick“ wurde über Jahrzehnte als Walfang-Abhandlung gelesen. Herman Melville hat die letzten Exemplare verschenkt. Wolfgang Borchert starb einen Tag vor der Uraufführung seines Theaterstücks „Draußen vor der Tür“ – und dann gibt es in der aktuellen Literaturgeschichte noch Roberto Bolaño, 1953 in Santiago de Chile geboren, der fünfzig Jahre später beinahe mittellos in Barcelona an einer Leberzirrhose krepiert ist. 2009 schrieb Daniel Kehlmann: „Wäre er damals schon der weltberühmte Autor gewesen, der er nach seinem Tod wurde, er hätte wohl eine bessere Krankenversicherung und größere Chancen auf die rettende Operation gehabt.“

Sechzehn Bolaño-Bücher sind ins Deutsche übersetzt, dreizehn postum. Das aktuell übersetzte, gerade bei S. Fischer unter dem Titel „Monsieur Pain“ erschienen, ist laut Vorwort des Autors, dem wir nicht trauen sollten, bereits Anfang der Achtziger entstanden. „Fast alles, was erzählt wird, hat sich in Wirklichkeit so zugetragen: Vallejos Schluckauf, der Lastwagen – von Pferden gezogen –, der Curie überfuhr, seine letzte oder zumindest eine seiner letzten Arbeiten, eng verbunden mit einigen Aspekten des Mesmerismus, die Ärzte, die Vallejo so schlecht behandelten. Auch Monsieur Pain hat es gegeben.“

Die Geschichte spielt im Paris des Jahres 1938, während des Spanischen Bürgerkriegs. Der Akupunkteur Pierre Pain wird beauftragt, einen sterbenskranken Mann im Spital aufzusuchen: „Zwei Frauen, darum bemüht, einen armen Mann am Sterben zu hindern, wenden sich an einen anderen armen Mann, weil die Wissenschaft nichts auszurichten vermag oder dazu willens ist. Eine schrecklich traurige Szene, ein naturalistisches Drama geradezu.“

Doch der Alternativmediziner wird gehindert, seinen Patienten zu begutachten. Spätestens ab diesem Moment wird es mysteriös. Pain wähnt sich verfolgt von schattenhaften Figuren. Doppelgänger huschen durch den falben Hintergrund seines Lebens. Er wird heimgesucht von spukhaften Alpträumen, die ihm vorkommen wie radiophonische Sendungen.

„Das wahnwitzige Radiotheater, das mich überfiel, war ohne Zweifel eine Vorwegnahme der Hölle; einer Hölle aus Stimmen, die sich ineinander verschränkten, um sich wieder voneinander zu lösen, mittels einer Struktur, von der ich annehme, dass sie von meinem ängstlichen Schnarchen skandiert wurde und abwechselnd aus Duos, Trios, Quartetten, ganzen Chören gebildet wurde, die sich blindlings durch ein leeres Zimmer voran bewegten, eine Art leerer Lesesaal, den ich in einem bestimmten Moment als mein eigenes Gehirn identifizierte. Irgendwann im Verlauf des Traumes schien es mir auch, als sei mein Ohr mein Auge.

Die hier auftretenden Seelenverwandten, Zwillinge, Schatten, Simulakren, Drehtüren und Duos deuten an, dass der Sterbenskranke ein Sinnbild ist für die moribunde Verfasstheit des Helden. Ist Monsieur Pain, der einst in Verdun schwer verwundetet wurde, nie zurückgekehrt? Sind wir zu Zeugen einer wahnhaften Agonie? Nur wer aufmerksam liest, wird auf dem abschüssigen Gelände dieses grandiosen Textes Halt finden. David Lynch war ein Vorbild für Roberto Bolaño. „Monsieur Pain“ lässt auf unheimliche Weise erahnen, weshalb die Filme des „Twin Peaks“-Schöpfers eine Inspiration waren für Bolaños ebenso welthaltiges wie weltabgewandtes, den Schrecken in die literarische Äquivalenz zwingenden Schaffens.

Roberto Bolaño: „Monsieur Pain“, aus dem Spanischen
 von Heinrich von Berenberg, S. Fischer, 176 Seiten, 21 Euro

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