Lyrik: Obergrenze des Schreibbaren

Drei brillante Lyriker präsentierten Montagabend State of the Art im Else Lasker-Schüler-Haus. Lutz Seiler, Hendrik Rost und Ulf Stolterfoht rezitierten 90 Minuten aus der kurzen Form, die hier weder in Schubladen noch Nischen passen musste. 

Archiveinschreibungen sind bei den mehrfachen Lyrik-Preisträgern großes Thema. Seiler erinnert an 70er-Jahre-DDR-Jugend, benennt schnörkellos das jeweils Signifikante einer Situation. Beispiel Schulschimmuntericht: „wie kam es, dass du frorst, woher das herzflattern des albatros unter deiner hühnerbrust?“ Es braucht nicht viel mehr, um Versagensängste schmächtiger Pennäler, Kabinendunkel und Chlorgeruch aufleben zu lassen.

Stolterfoth befindet sich (Gedichtzitat) „technisch an der Obergrenze des Schreibbaren“. Er verarbeitet Werkbank- und Steckenpferdrhetorik quasi-wissenschaftlicher Special-Interest-Publikationen, beispielsweise des Leitfadens für Hobbyfunker oder des Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. So etwas ist gleichsam literarische Ready-Made-Kunst und Fortführung popkultureller Collagetechniken vergangener Jahre.

Der junge, 1969 geborene Hendrik Rost kann ebenso junge Mädchen auf MTV-Lesebühnen in Ohnmacht fallen lassen. Äußerst charmant beweist er, der nach eigenen Angaben „zum Leben nicht viel braucht“, unbescheidenen Umgang mit Sprache, Form, Ursprungsmaterial. Kurz, fast knapp schafft Rost poetische Räume, lässt in diesen Portraitzeichner wohnen und das Modell mitsamt Bild „einsam in seiner Ähnlichkeit“ ausziehen. Irgendwo bleibt die Bestsellerlisten-Forderung: „Ärgere dich nicht, lebe!“

Kühn formuliert steht das Gedicht über den Verkleinerungsumweg Rainald Goetz (Schnittfolgenroman) Judith Hermann (Kurzgeschichten) und Paul Brodowsky (Prosaminiaturen) wieder mittig im Geschehen. Der Neunziger-Rap aus Hamburg liegt in ihm und Blumfeld als sonnige Nostalgie. Man muss nicht gleich Klagenfurt-Wunderkind Raphael Urweider bemühen – aber Gedichte, zumal in der Montagabend präsentierten Form, sind als Gattung zeitgemäß aufgrund des Kontemplativen auf der einen und des Filmmontage-Charakters auf der anderen Seite. Lutz Seiler, Hendrik Rost und Ulf Stolterfoth zeigten sich als drei sympathische Vertreter, die unter Silberlinden im Frühjahr unbedingt gelesen werden sollten.

Lutz Seiler: „Vierzig Kilometer Nacht“, Suhrkamp, 18,90 Euro / Hendrik Rost: „Aerobic und Gegenliebe“, grupello Verlag, 12,80 Euro/ Ulf Stolterfoth: „fachsprachen XIX-XXVII. Gedichte.“, Urs Engeler Editor, 19 Euro / Foto: Jürgen Bauer

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1 Kommentar

  1. […] comment.“ Und so weiter. Für noch mehr Lyriköffentlichkeit engagiert sich nun auch der gute Ulf Stolterfoht, der gerade einen neuen Verlag gegründet hat – unter interessanten Vorzeichen. – Das […]

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