Nicht einmal das Glas Wasser

Es wird Zeit, über die stillen Männer zu reden, die im Jetzt der Performer gemächlich durch die Großstädte flanieren. Die sich kontemplativ gestimmt ins Gras der Hasenheide legen und lediglich eine konzentrierte Stunde pro Tag arbeiten, in ihrer „autistischen Ecke“, um sich vielleicht einmal im Jahr bei der Außenwelt zu melden, mit den durchdachten Ergebnissen ihres Einsiedlerlebens. Der gebürtige Wiener Schriftsteller Robert Seethaler ist so ein stiller Mann und mehr als eine Stunde am Tag schreibt er selten. „Ich versuche wirklich, mich die Zeit über zu sammeln oder zu zerstreuen, was quasi das Gleiche ist. Ich zerstreue mich, um mich dann wieder zu sammeln, um dann die wenigen Sätze zusammenzubringen, die gerade in mir sind.“

Und dann trinkt er einen Schluck von dem Wasser, auf das er sich später partout nicht einladen lassen will. Am Ende des Treffens in einem Berlin-Mitte-Café wird Robert Seethaler darauf bestehen, wenigstens drei Euro beizusteuern – für ein Glas Wasser. Dabei möchte man diesem stillen Mann alles geben, spendieren, aus reiner Freude über seinen schmalen, irrlichternd schönen Roman der im Titel verspricht auf 156 Seiten „Ein ganzes Leben“ zu erzählen. Der Text begleitet das 20. Jahrhundert in einer Berggegend, wo der Tod „als kalte Frau“ gilt, Kinder von Diphterie hinweggerafft werden und schweigsame Arbeiter losziehen, um unter Lebensgefahr die Natur zu bezwingen. „Der Mann vollzieht Gottes Willen und er spricht Gottes Wort. Der Mann erschafft Leben durch die Kraft seiner Lenden, und er nimmt Leben durch die Kraft seiner Arme.“

In diesem erdigen Ton wird der stille Werdegang des Waisenjungen Andreas Egger erzählt, der zuerst von seinem Pflegevater zum Krüppel geprügelt wird, als wenngleich hinkender, so doch bärenstarker Arbeiter gesundet und sich emanzipiert, nachdem er seinem Zuchtmeister nach jahrelanger Gewalt droht: „Wenn du mich schlagst, bring ich dich um.“ Der irgendwann beim Bautrupp „Bittermann & Söhne“ anheuert, weil er mit dem verkrüppelten Bein am Hang gerade stehen kann. Der lernt zu lieben und wieder loszulassen. Der in den Krieg muss und einsam heimkehrt. Der vom Tod umringt fernab der Moderne ein stilles, melancholisches Dasein fristet und das Leben als Wunder betrachtet, bei dem er zwar nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren hat. Die Geschichte, in knappen Kapiteln gezeigt, wirkt parabelhaft. Da soll, dem langsam in Bergleben einbrechenden Tourismus Rechnung zollend endlich ein Stück Zivilisation in die Wildnis einziehen:

„Eine Seilbahn würde errichtet werden. Eine mit elektrischem Gleichstrom betriebene Luftseilbahn, in deren lichtblauen Holzwaggons die Menschen den Berg hinaufschweben und den Panoramablick über das ganze Tal genießen würden.“ Aber was während dieses Projekts an fürchterlichen Verletzungen,  unvermeidlichen Todesfällen, an einbrechenden Unwägbarkeiten und sich stetig steigerndem Größenwahn geschieht, erinnert an Paul Thomas Andersons Blockbuster „There will be blood“ über die Kräfte zehrende Ölförderungen in Südkalifornien Anfang des 20. Jahrhunderts. Während im Film das Stampfen der gewaltigen Pumpen als permanenter Hintergrundbass die Kinositze erbeben lässt, inszeniert Robert Seethaler in seinem Roman eine ständig lauernde Drohkulisse, als unterschwellige Mahnung an die Hybris des modernen Menschen.

Es ist eine Hybris, gegen die eine ganz und gar zarte Liebe zwischen Egger und der beschädigten Magd Marie gestellt wird. „Seit sie als kleines Kind beim Klettern über ein wackeliges Holzgatter in den Schweinekoben gestürzt war und von einer erschrockenen Muttersau gebissen wurde, trug sie quer über den Nacken eine etwa zwanzig Zentimeter lange, leuchtend rote Narbe in Form einer Mondsichel.“ Der stille Egger und die bescheidene Marie halten zusammen. Der Welt gegenüber verschlossen gibt es in dieser Zweisamkeit rar gesäte Augenblicke der Zuneigung, der Scham und Schutzlosigkeit. Es gibt Momente der Hoffnung und Phantasie, wenn dieser Egger beispielsweise nach Einbruch der Dunkelheit seinen Arm um Maries Schulter legt, sie bittet, den Berg hinaufzuschauen, weil er ihr „etwas Schönes“ zeigen möchte. Für den nun folgenden Heiratsantrag hat er sich etwas einfallen lassen, das „gewissermaßen die Größe seiner Liebe in sich trug und sich für immer in Maries Gedächtnis einbrennen würde. Er dachte an etwas Schriftliches, doch schrieb er noch viel seltener, als er redete, also praktisch nie.“

Zuvor präparierte Säckchen mit Sägespänen flammen urplötzlich am Hang auf. „FÜR DICH, MARIE, stand in flackernden Buchstaben in den Berg geschrieben, riesengroß und weithin sichtbar für jedermann im Tal. Das ‚M‘ stand ziemlich schief, außerdem fehlte ein Stück, so dass es aussah, als hätte es jemand in der Mitte auseinandergerissen.“ Die Liebe in Flammen. Das ist ein altes Bild, neu aufgelegt. „Aber das war mir beim Schreiben ganz sicher nicht bewusst“, sagt Robert Seethaler, auf die vielen Differenzen, Gleichnisse, Allegorien in seinem Roman angesprochen. Über derartige Dinge mache er sich keine Gedanken. „Ich bin eigentlich auch kein Schriftsteller“, sagt er, „sondern ich bin eher ein Bilderaufschreiber. Weil ich schlecht sehe. Also, ich habe einen Geburtsfehler, war auch auf der Sehbehindertengrundschule und entwickele daher die Bilder in meinem Inneren. Weil ich ja im Äußeren kaum etwas erkennen kann.“

Das schlechte Sehen ist bedeutsam für Robert Seethalers literarischen Stil, in dem ebenso Geräusche in unterschiedlicher Lautstärke und Tonlage wiedergegeben werden: grollende Lawinen, das beständige Tropfen und Plätschern des Tauwassers zur Schneeschmelze, ächzende Kinder im Schlaf. Die meiste Zeit ist es jedoch still, bis auf das eine Mal in russischer Kriegsgefangenschaft, als ein Wachmann die Tür der Baracke, in der Egger haust aufreisst und brüllt: „Hitler kaputt! Hitler kaputt!“ Egger bleibt ohne Erwiderung sitzen. Das Laute liegt ihm nicht. Ist es Zurückhaltung, Vorsicht, Scham? Der zurückhaltende und vorsichtig im Interview formulierende Robert Seethaler kennt die Scham zu gut aus einem nahezu abgelegten Leben – als Schauspieler. „Ich habe mich als Schauspieler immer geschämt, für mein ganzes Sein“, sagt er. „Die Scham kann, wie in der Sexualität, etwas Lustvolles haben, weshalb es mich anfangs nicht am Spielen gehindert hat. Aber als ich die Schauspielerausbildung in Wien gemacht hatte, war ich bei einem sehr guten Schauspiellehrer in seiner Wohnung. Ich hatte einen Monolog einstudiert, mich jedoch so sehr geschämt, dass ich meinen Lehrer bat, während meines Spiel rauszugehen, vor die Tür.“

Der Lehrer hat damals protestiert. Robert Seethaler lernte, Zuschauer anzunehmen, auch vor Fernsehkameras zu spielen – semibekannt wurde er als Dr. Kneissler aus der ZDF-Krimiserie „Ein starkes Team“. Das Leben hatte aber Anderes mit ihm vor. Robert Seethaler verfasste Drehbücher und veröffentlichte 2006 mit „Die Biene und der Kurt“ seinen ersten Roman beim Schweizer Verlag Kein & Aber, dem er vier weitere Bücher hinweg treu blieb. Nach dem umwerfenden Erfolg seines Romans „Der Trafikant“ im vergangenen Jahr ging Robert Seethaler den Weg nahezu aller österreichischen und Schweizer Literaten und wechselte ins große Nachbarland. „Ein ganzes Leben“ erscheint nun bei Hanser in Berlin, dem Wohnort des Autors seit nunmehr 17 Jahren. „Der Papa war gelernter Installateur, die Mutter war Sekretärin und der Großvater arbeitete als Teerarbeiter. Und jetzt bin ich hier in Berlin und versuche, Sätze aus dem Holzklotz meines Geistes zu schnitzen.“

Das Fernsehen hat er weit hinter sich gelassen. „Das ist Geistesgift.“ Die grüne Vespa hat er ebenfalls verkauft. „Ich bin ein Flaneur. Man kann in Berlin wunderbar spazieren gehen. Berlin ist eine Stadt für Spaziergänger. Man muss sich nur mal ansehen, wie breit die Bürgersteige hier sind. Das ist gut.“ Also geht Robert Seethaler schweigend durch Berlin oder legt sich ins Gras der Hasenheide, wo Turnvater Jahn 1811 den ersten Turnplatz errichtete. „Da stehen immer noch Ertüchtigungsgeräte.“ Mit seinem 5-jährigen Sohn ist er oft unterwegs, ansonsten jedoch bei sich, einsam und still wie Andreas Egger, der schweigsame Held seiner neuesten Schnitzarbeit. Doch hier widerspricht Robert Seethaler. „Ich bin nicht einsam“, sagt er. „ich bin nur allein.“

Robert Seethaler: „Ein ganzes Leben“, Hanser Berlin, 156 Seiten, 17,90 Euro

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2 Kommentare

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