Rezension: Musikanten mit Taschenrechner

Der Bowie- und Roxy Music-Spezialist David Buckley schreibt eine kuriose Biographie über die Düsseldorfer Elektropioniere “Kraftwerk” und stellt die Herren als seelenarme Mensch-Maschinen zur Schau.

Neunzehn ehemalige Mitglieder zählt Kraftwerk, “wenn man alle Musiker mitrechnet, die live und im Studio je in der Gruppe mitgespielt haben.” Der Brite David Buckley hat es selbstverständlich nicht geschafft, mit jedem Einzelnen zu reden – zu verschwiegen sind die Düsseldorfer Mensch-Maschinen. “Interviews, Veröffentlichungen über ihre Arbeit oder Fotos lehnen sie so gut wie immer ab – es sei denn, sie wollen ein neues Produkt bewerben, was bei der momentanen kreativen Arbeitsgeschwindigkeit ungefähr einmal alle zehn Jahre vorkommt.” Somit ist diese “unauthorisierte Biographie” vor allem ein Kompendium des Nein-Sagens.

Kraftwerk lehnten es ab, mit ihrem großen Verehrer David Bowie auf Tour zu gehen, gaben 1983 Michael Jackson einen Korb, der sein Album „Thriller“ dann mit Quincy Jones aufnahm. Sie ließen nach Aussage vieler Begleiter den legendären Musikproduzenten Conny Plank (Brian Eno, La Düsseldorf, Eurythmics, Ideal, Annette Humpe) schlichtweg im Regen stehen, zeigten sich für seine anfängliche kreative Arbeit keineswegs dankbar. Nein, sympathisch werden einem diese Düsseldorfer zu keiner Zeit. Sie erscheinen eher als reich geborene Schnösel, die mit Ellbogen und Arroganz ihren zwar beachtlichen, aber für viele Weggefährten ebenso enttäuschenden Weg gegangen sind. Wolfgang Flür: „Keine Vermischung mit feindlichen Kulturen. Nichts. was völlig von anderen Musikstilen, Kulturen, Instrumenten, Klängen oder Ländern beeinflusst ist. Wir mussten für uns sein, selbstreferentiell.“

Dazu kommt die Gleichgültigkeit gegenüber Bewunderern. Zwischenzeitlich haben sie sich gegen das lästige Touren entschieden, auch wenn sie damit in Musikerkreisen nicht allein dastehen. “Kate Bush absolvierte in ihrer gesamten Karriere nur eine einzige Tournee, und die beschränkte sich auf Großbritannien.” – Am interessantesten ist dieses ausufernde Buch in den ohnehin wichtigeren Anfangsjahre, wenn über die  Beeinflussung durch Karlheinz Stockhausen erzählt wird, dessen Mitte der Fünfziger entstandener “Gesang der Jünglinge” als erstes Stück moderner elektronischer Musik gilt. Es gibt Exkurse zu Bauhaus, John Cage, Pierre Boulez. “Sie [Kraftwerk] haben mehr gemein mit Gilbert & George und Andy Warhol. Die Glamour-Welt der Musikindustrie ist jedenfalls nichts für sie.” Buckley erläutert, welcher Mut hinter dem Düsseldorfer Projekt stand „zu einer Zeit, als rund 75 Prozent aller Musik im deutschen Radio englisch war.“

Man versteht, weshalb Kraftwerk sich deshalb hingezogen fühlten zum Stampfen deutscher Industriemaschinen heimischer Bosch- oder Siemensprodukte. Industrie war ihnen näher als amerikanischer Blues. Dazu gibt es den üblichen Fanklatsch: “Kaffee war obligatorisch. Wir tranken alle Kaffee; Ralf ein bisschen mehr als die anderen. Jeder trinkt gern Kaffee. gelegentlich gab es auch Süßigkeiten. Manchmal aßen wir Eis. Manchmal gab Florian Quark, Schlagsahne und gefrorene Himbeeren in eine Schüssel, mit Zucker und Vanille. Er verrührte alles und stellte es in den Kühlschrank.”

Oder die Bedeutung des in Großbritannien hochgeschossenen Stücks „The Model“ (eine Übersetzung des deutschen Originals). „The Model auf Platz 1 klang gerade elfeinhalb Jahre nach Woodstock, als wäre es 111 Jahre nach der Musik entstanden, die bei jenem legendären Konzert gespielt worden war. Kein Frontmann oder Leadsäger, keine herkömmliche Rock-Instrumentierung und keine verratenen Hippie-Ideale. Das war New Musik, eine Musik für das postindustrielle Computerzeitalter, Musik für die Zukunft. Die Bedeutung des Stücks entging auch einer späteren Generation vorwärtsdenkender Radiomacher und Moderatoren nicht: Im Februar 2012 widmete der BBC-Kanal Music 6 diesem einzigartigen Phänomen einen ganzen Tag in seinem Programm. Es war der Moment, in dem die Welt endlich bereit für Kraftwerk war.“

51x2x+RC0VLWas kam danach? Kraftwerk dominierten den schwarzen Untergrund Amerikas, ihre Musik wurde gesampled, geloopt, verändert. Aus einer Konzert- entstand die immer noch wegweisende Clubkultur (insbesondere in Großstädten, wo Wohnraum teuer und das Wohnzimmer in den öffentlichen Raum verlagert wurde). Es gibt Verlängerungen von Kraftwerks Bühnenrobotern zu Michael Jacksons „Behind the Mask“ und seinen Schaufensterpuppen auf der Neverlandranch zu Daft Punks futuristischen Helmen (man könnte weitergehen zur Pandacamouflage von Cro, dem Totenkopfsilber Sidos etc.). Ralf Hütters aktive Begeisterung fürs Radfahren (zu jener Zeit 200 Kilometer täglich) führte 1983 zum „Tour de France„-Stück, das in einer Neuauflage zehn Jahre später auf dem gleichnamigen Album erschien. In den Achtzigern tourte die Band so gut wie gar nicht mit ihrer Musik, sondern kurvte stattdessen regelmäßig auf ihren Fahrrädern durchs Bergische Land. Sie wurden sportsüchtig, wobei nicht ganz klar wird, ob sie ihren Körpern das Maschinenartig antrainieren oder ihrem Geist das Computeriserte austreiben wollten.

Irgendwann verlässt Wolfgang Flur verbittert die Band und erst 1999 treten die restlichen Mitglieder wieder in Erscheinung, als sie für 400.000 Mark einen Jingle zur EXPO 2000 in Hannover veröffentlichen. Sie gingen auf Tour, standen nun bewegungslos hinter ihren Sony-Laptops. Martin Ware von Heaven 17 erinnert sich: „Das war, wie wenn man vier alten Männer zusieht, wie sie ihre E-Mails checken.“ Inzwischen steht nur noch Ralf Hüter als einziges Mitglied der Ur-Band auf der Bühne. Ihm sind drei andere Musiker zur Seite gestellt. Mit den alten „Kraftwerk“ hat das nicht mehr viel zu tun. Von der Bildfläche sind sie dennoch nie verschwunden.

61wIQJP40sL._SL1500_Die Melodie von “Computerliebe” ist einer neueren Generation aus dem Coldplay-Song “Talk” bekannt. Chris Martin hat Ralf Hütter brieflich in seinem Schuldeutsch gebeten, das Motiv übernehmen zu dürfen. Es war eine seltene Ausnahme. Normalerweise antwortet Kraftwerk nicht auf Anfragen anderer Menschen. Sie wollen unter sich bleiben, sodass es weiterhin nur „unautorisierte Biographien“ wie jene von David Buckley geben kann. – Das  Cover (original rechts) hat der legendäre Designer Malcolm Garrett entworfen. „Ohne seinen Umschlag wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, das Buch als Hommage an das Kraftwerk-Faible für Zahlensymbolik und Computerästhetik in acht Kapitel und 64 Erzähleinheiten (‚Bits‘) aufzuteilen.“ Eine Biographie als intellektuelles Gesamtkunstwerk (und mit ausreichend Fotos auf Glanzseiten, für die Tänzer unter den Clubbesuchern). Man kann sich weder der Band noch Buch ohne nachhaltige Verwirrung und ständiges Staunen entgegenstellen.

David Buckley: “Kraftwerk – Die unautorisierte Biographie”, Metrolit, 400 Seiten, 24,99 Euro

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